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Belarus und Polen: Schauen Sie bitte weg, es gibt hier nichts zu sehen!


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Angst vor Flüchtlingen
Schauen Sie bitte weg, es gibt hier nichts zu sehen!

Aus Bialystok berichtet Tim Kummert

14.11.2021Lesedauer: 4 Min.
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"Im aggressiven Tonfall angegangen": Was t-online-Reporter Tim Kummert vor Ort beobachten kann und was ihm Migranten berichten. (Quelle: t-online)
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Polen verwehrt Tausenden Flüchtlingen die Einreise. Aber was an der Grenze zu Belarus wirklich passiert, weiß niemand. Denn das Land verwehrt Journalisten den Zutritt zur Sperrzone.

Der polnische Polizist wirkt besonders schlecht gelaunt. Er ist etwa 40 Jahre alt, trägt Zivilkleidung und leuchtet mit seiner Taschenlampe in unser Auto. "Woher kommt ihr und wohin wollt ihr?" fragt er auf Englisch. Seine Stimme klingt schrill. Der Lichtkegel der Taschenlampe zuckt durch die Nacht.

Es ist der vergangene Donnerstag, gegen 18 Uhr, kurz vor der Grenze zu Belarus in Polen. Wir, die t-online-Reporter, wollen über die Lage der Flüchtlinge recherchieren. Auf unsere Antwort an den Polizisten, dass wir als deutsche Journalisten gerade von der Grenze kämen, steigt die Nervosität des Beamten merklich. "Was habt ihr dort gemacht?" Der Mann reißt die Augen auf, sein Körper spannt sich, er wirkt extrem nervös. Niemand wäre überrascht, wenn er notfalls die Pistole zücken würde.

Immer wieder versuchen Migranten in diesen Tagen, am Militär vorbei nach Polen zu gelangen. Und ein paar wenigen gelingt das auch, deshalb ist die Aufregung so groß. Polizei und Militär haben Angst, dass Autos aus der Grenzregion die Flüchtlinge ins Land transportieren könnten.

Das Versprechen entpuppte sich als eine Lüge

Doch wir waren gar nicht bis zur Grenze gekommen: Eine Kontrolle hatte uns kurz davor abgefangen. Nachdem wir nun den Kofferraum öffnen müssen und beweisen können, dass wir niemanden im Auto verstecken, und unsere Presseausweise zeigen, lässt uns der Polizist weiterfahren. Hauptsache, wir waren nicht direkt bei den Migranten, das ist für ihn erst mal das Wichtigste.

Das gesamte Gebiet an der Grenze von Polen zu Belarus ist aktuell eine Sperrzone. An der Grenze zu Polen stehen auf belarussischer Seite etwa 2.000 Flüchtlinge: angelockt von dem Versprechen des Diktators Alexander Lukaschenko, ein Weg in die EU sei praktisch mühelos möglich. Viele Flüchtlinge glaubten, sie könnten einfach nach Polen und dann nach Deutschland, Frankreich oder Österreich durchreisen. Das entpuppte sich als Lüge, nun sitzen sie fest.

Die Menschen sind eingekeilt: Auf der einen Seite steht das belarussische Militär und treibt sie gen Polen. Auf der anderen Seite stehen polnische Beamte, sichern die Grenze und wollen niemanden ins Land lassen. Gefangen zwischen den Polizisten harren sie auf dem eiskalten Boden aus, oft ohne jede Versorgung.

Mittlerweile sind erste Todesopfer bestätigt, ganz offiziell von den polnischen Behörden. Die Menschen erfrieren bei Temperaturen um den Gefrierpunkt, direkt an der EU-Grenze. Doch wegen der Sperrzone kann niemand kontrollieren, wie es den Menschen wirklich geht. Wer Schuld trägt an der Misere vor Ort. Und wie die Situation gelöst werden kann.

Keiner weiß wirklich, wer recht hat

Als Journalist bekommt man einen Eindruck davon, wie abweisend die polnische Regierung gegenüber Berichterstattern ist. Nichts soll nach außen dringen. Und wenn man durchs Land reist, erfährt man gleichzeitig, wie massiv die Aufrüstung vorangeht, etwa 12.000 Soldaten sollen schon an die Grenze verlegt worden sein.

Das Leid der Migranten bleibt für die Weltöffentlichkeit weitgehend unsichtbar. Wie groß das Vakuum des Wissens über die Region ist, ließ sich besonders bei den Grenzdurchbrüchen beobachten. Von polnischer Seite hieß es, es habe "viele Versuche" gegeben, die Grenze zu durchbrechen, die Migranten seien jedoch gestoppt worden. Die Botschaft: Alles kein Problem, wir haben die Lage im Griff.

Prompt folgte die belarussische Propaganda, die Bilder blutender Migranten zeigte und erklärte, es habe von polnischer Seite sogenannte Push-Backs, also das gewaltsame Zurückdrängen von Migranten, gegeben. Die Botschaft: Gar nichts ist im Griff, ihr wendet Gewalt an und könnt eine Eskalation gerade noch so verhindern.

Und wer hat recht? Man weiß es schlicht nicht. Die wenigen Informationen, die nach draußen dringen, kommen von der belarussischen Propaganda oder den kargen Äußerungen der polnischen Regierung. Nur einigen Fotografen ist es offenbar gelungen, direkt ins Sperrgebiet zu kommen – und manche Migranten senden Fotos über ihre Smartphones in die sozialen Netzwerke. Mit einer unabhängigen Berichterstattung hat das trotzdem nichts zu tun.

An der Grenze sind die Soldaten praktisch überall

Wir fahren auf den Autobahnen um Warschau und immer wieder nach Bialystok, der östlichsten Großstadt Polens. Überall, auf fast allen Straßen, sind die Militärlaster unterwegs, in beide Richtungen. Große Wagen, die braunen Planen flattern im Fahrtwind. Manchmal fahren sie in Kolonnen, manche sind einzeln unterwegs. Zu jeder Tages- und Nachtzeit. Und: auffällig viele weiße Transporter.

Auf einer Raststätte sehen wir eines dieser Autos. Es sind langgezogene Wagen, aus diesem auf dem Rastplatz steigen plötzlich diverse Soldaten: alle in Tarnanzügen mit polnischer Flagge auf dem Arm. Offenbar soll nicht jeder mitbekommen, wohin das Militär genau unterwegs ist, auch deshalb werden zivile Fahrzeuge verwendet.

Im Land sind die Soldaten oft an den Straßen postiert. Manchmal in den Straßeneinfahrten, und je näher man der Grenze kommt, desto eher gilt: Sie sind praktisch überall. Wenn die polnische Regierung in diesen Tagen von einem "hybriden Krieg" spricht, dann liegt die Betonung wohl auf dem zweiten Wort. Mit der Presse wird trotzdem kaum kommuniziert.

Doch es macht einem nicht nur die rechtskonservative Regierung schwer, in Polen über die Lage an der Grenze zu recherchieren. Am polnischen Tag der Unabhängigkeit vor wenigen Tagen wurde es noch drastischer: Weil Nationalisten durch die Straßen zogen, riet die polnische Regierung in einer offiziellen Erklärung Journalisten davon ab, die Presseakkreditierung an einem Band um den Hals zu tragen. Man könne ja daran ersticken.

Verwendete Quellen
  • Eigene Beobachtungen bei Recherche in Polen
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