Refaat Alareer
Refaat Alareer (arabisch رفعت العرعير, DMG Rifʿat al-ʿArʿīr; * 23. September 1979 in Gaza; † 6. Dezember 2023 ebenda) war ein palästinensischer Lyriker, Schriftsteller, Essayist, Aktivist und Hochschullehrer.
Leben und Werk
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Alareer erwarb 2001 einen Bachelor of Arts (BA) in Englisch an der Islamischen Universität Gaza und 2007 einen Master (MA) am University College London. Er promovierte in englischer Literatur an der Putra Universität Malaysia.[1]
Er war Professor für Literatur und kreatives Schreiben an der Islamischen Universität Gaza, an der er ab 2007 lehrte, und Mitbegründer der Organisation bzw. des Mentorenprogramms We Are Not Numbers, mit deren Hilfe Mentoren im Ausland mit jungen Schriftstellern in Gaza zusammengebracht werden sollten.[2][3] Ziel war, die Schriftsteller aus Gaza dabei zu unterstützen, Geschichten in englischer Sprache zu veröffentlichen, die über bloße Opferzahlen hinausgingen,[4] und ihnen so eine Stimme zu geben.[2][5] Zu seiner Lehrtätigkeit gehörte auch die Beschäftigung mit hebräischer Literatur und der Darstellung von Juden in englischer Literatur. Als das Hauptziel dieser seiner Lehrtätigkeit gab er an, seinen Studierenden parallele Erfahrungen der Lebenswirklichkeit von Palästinensern und Juden aufzuzeigen.[6][7][8] Gleichzeitig habe er aber auch vermitteln wollen, dass Israel Literatur "als Werkzeug für Kolonisierung und Unterdrückung" gebrauche.[6]
Alareer war Herausgeber der Kurzgeschichtensammlung Gaza Writes Back (2014) und Mitherausgeber der Anthologie Gaza Unsilenced (2015).[9] Seit dem Gazakrieg (2008–2009) schrieb er nicht nur in seiner Muttersprache Arabisch, sondern war auch einer der führenden englischsprachigen Autoren aus Palästina.[2] 2014 verlor er bei einem israelischen Bombenangriff einen Bruder und etwa 30 weitere Verwandte.[10]
Den Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 rechtfertigte er in einem BBC-Interview am selben Tag als „legitim und moralisch“,[11] beschrieb ihn als „Aufstand im Gaza-Ghetto gegen 100 Jahre europäischer und zionistischer Kolonialisierung und Besetzung“ und stellte ihn auf eine Stufe mit dem Aufstand im Warschauer Ghetto im Jahr 1943.[2][4] Alareer bestritt, dass militante Hamas-Anhänger im Zuge des Terrorangriffs Opfer vergewaltigt hätten. Alle diese Vorwürfe sexueller Gewalt seien „Lügen“ und nur „ein Vorwand, um den Genozid in Gaza zu rechtfertigen“.[12] Einen Tweet mit der Behauptung, die Hamas hätte ein israelisches Baby in einem Ofen „zu Tode gebacken“, kommentierte er mit „mit oder ohne Backpulver?“[10][13] In der Folge erhielt Alareer angeblich viele Vergewaltigungs- und Todesdrohungen online.[10][13] Laut einer Untersuchung der israelischen Zeitung Haaretz im Dezember 2023 entsprach der Bericht über das „gebackene Baby“ nicht der Wahrheit.[10]
Gegen Ende Oktober 2023 überlebten er und seine Familie einen israelischen Bombenangriff auf das Haus, in dem sich seine Wohnung befand.[14] Am 6. Dezember 2023 wurde Alareer bei einem israelischen Luftangriff im Norden des Gazastreifens getötet, bei dem auch sein Bruder, dessen Sohn, seine Schwester und deren drei Kinder ums Leben kamen.[3][15] Alareer hatte laut The Guardian die Wohnung seiner Schwester aufgesucht, weil er am Tag zuvor eine telefonische Drohung vom israelischen Militär erhalten hatte.[13] Nach Ansicht der Menschenrechtsorganisation Euro-Med Human Rights Monitor zielte der tödliche Luftangriff genau auf die Wohnungseinheit seiner Schwester.[10]
Am 1. November 2023 hatte Alareer ein 2011 an seine Tochter Shymaa geschriebenes Gedicht „If I must die“ („Wenn ich sterben muss“) im sozialen Netzwerk X veröffentlicht.[2][13] Das Gedicht wurde innerhalb weniger Tage in Dutzende Sprachen übersetzt und von Menschen weltweit online geteilt.[10] Ein Video mit einer Lesung des Gedichts von dem schottischen Schauspieler Brian Cox wurde binnen zwei Tagen über 12 Millionen Mal angesehen.[16] Das Gedicht endet mit den Worten:[17]
„If I must die
let it bring hope
let it be a tale“
„Wenn ich sterben muss
lass es Hoffnung bringen
lass es eine Erzählung sein“
Alareers Tochter Shymaa und ihr kleiner Sohn wurden einige Monate später ebenfalls bei einem israelischen Luftangriff getötet.[13] Ein Jahr nach Alareers Tod erschien das Buch If I Must Die: Poetry and Prose, eine Sammlung von ihm verfasster Gedichte und Prosastücke. Der palästinensische Lyriker Mosab Abu Toha erklärte in New York bei der Vorstellung des Bands im Dezember 2024, nach dem Tod von Refaat und Shymaa Alareer sei If I Must Die ein Brief an „jeden von uns, der das Gedicht gelesen oder gehört hat.“[13] Das Buch erreichte Platz 20 auf der „Best-selling Booklist“ von USA Today und wurde von Publishers Weekly mit einem „Starred Review“ ausgezeichnet.[18][19]
Werke
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Refaat Alareer: If I Must Die: Poetry and Prose. OR Books, LLC, 2024, ISBN 978-1-68219-621-2 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche). Zusammengestellt und mit einer Einführung von Yousef M. Aljamal. Mit einem Vorwort von Susan Abulhawa.[20]
Anthologien
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Refaat Alareer (Hrsg.): Gaza Writes Back: Short Stories from Young Writers in Gaza, Palestine. Just World Books, Charlottesville, VA 2014, ISBN 978-1-935982-35-7 (englisch, justworldbooks.com).
- Refaat Alareer, Laila El-Haddad (Hrsg.): Gaza Unsilenced. Just World Books, Charlottesville, VA 2015, ISBN 978-1-935982-55-5 (englisch, justworldbooks.com).
Essays
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Refaat Alareer: My Child Asks, 'Can Israel Destroy Our Building if the Power Is Out?' In: The New York Times, 13. Mai 2021. Abgerufen am 7. Dezember 2023 (englisch).
- Refaat Alareer: Light in Gaza: Writings Born of Fire. Hrsg.: Jehad Abusalim, Jennifer Bing, Michael Merryman-Lotze. AFSC and Haymarket Books, Chicago, Illinois 2022, ISBN 978-1-64259-725-7, Gaza Asks: When Shall This Pass?, S. 15–28 (englisch, google.com).
- Refaat Alareer: They even keep our corpses. Dying in Israeli prisons. In: scalawagmagazine.org. 20. Juni 2023, abgerufen am 22. Juni 2024 (englisch).
Weblinks
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Yasmeen Serhan: The Voice Notes Refaat Alareer Sent Before His Death. In: Time. 11. Dezember 2023, abgerufen am 4. Januar 2025 (englisch).
Einzelnachweise
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- ↑ Refaat Alareer. American Friends Service Committee, abgerufen am 7. Dezember 2023 (englisch).
- ↑ a b c d e Palästinensischer Lyriker Alareer offenbar bei Luftangriff getötet In: Der Spiegel, 8. Dezember 2021. Abgerufen am 9. Dezember 2023
- ↑ a b Poet and scholar Refaat Alareer has been killed by an Israeli airstrike. Literary Hub am 7. Dezember 2023
- ↑ a b Palestinian poet killed in Gaza bombardment. In: Reuters. 10. Dezember 2023 (reuters.com [abgerufen am 3. Januar 2025]).
- ↑ deutschlandfunk.de: Nahostkrieg – Palästinensischer Literaturprofessor Dichter Refaat Alareer offenbar bei Luftangriff auf Gaza getötet. 9. Dezember 2023, abgerufen am 30. Dezember 2024.
- ↑ a b In Gaza, a Contentious Palestinian Professor Calmly Teaches Israeli Poetry In: The New York Times, 16. November 2021. Abgerufen am 7. Dezember 2023 (englisch).
- ↑ Vergleiche auch Max Blumenthal: The 51 Day War. Ruin and Resistance in Gaza. Nation Books, New York 2015, ISBN 978-1-56858-511-6, S. 210–211 (englisch).
- ↑ Vergleiche auch Yousef M. Aljamal: Remembering Refaat Alareer: The Legacy of Gaza's Storyteller. In: Journal of Palestine Studies. 53. Jahrgang, Nr. 2, 2024, S. 121, doi:10.1080/0377919X.2024.2366654 (englisch, tandfonline.com [abgerufen am 3. Januar 2025]).
- ↑ Salih J. Altoma: The Story of a Poem: Refaat Alareer’s ‘If I Must Die’. In: ArabLit. 21. Juni 2024, abgerufen am 22. Juni 2024 (amerikanisches Englisch).
- ↑ a b c d e f The final verses of Gaza's poet Refaat Alareer. In: Le Monde. 18. Dezember 2023, abgerufen am 4. Januar 2025.
- ↑ Refaat Alareer: Palestinians mourn writer killed in air strike. In: BBC News. 8. Dezember 2023 (bbc.co.uk [abgerufen am 5. Januar 2025]).
- ↑ Palestinian poet Refaat Alareer killed in Gaza. In: The Guardian. 8. Dezember 2023, abgerufen am 22. Juni 2024.
- ↑ a b c d e f Sarah Aziza: ‘How many dead Palestinians are enough?’ The unbearable prescience of the late poet Refaat Alareer. In: The Guardian. 10. Dezember 2024, abgerufen am 31. Dezember 2024.
- ↑ Refaat Alareer: Israel bombed my home without warning. 22. Oktober 2023, abgerufen am 4. Januar 2025 (englisch).
- ↑ Refaat Alareer: Palestinians mourn writer killed in air strike. In: BBC. 8. Dezember 2023, abgerufen am 14. Dezember 2023.
- ↑ Jonathan Edwards: A Gazan professor wrote a poem ‘If I Must Die.’ He was killed in a bombing. In: The Washington Post. 14. Dezember 2023, abgerufen am 2. Januar 2025 (amerikanisches Englisch).
- ↑ "If I Must Die," A Poem by Refaat Alareer. In: In These Times. 27. Dezember 2023, abgerufen am 22. Juni 2024 (englisch).
- ↑ If I Must Die: Poetry and Prose. In: USA Today. 18. Dezember 2024, archiviert vom (nicht mehr online verfügbar) am 31. Dezember 2024; abgerufen am 31. Dezember 2024 (amerikanisches Englisch). Memento von „USA TODAY’s Best-selling Booklist“ vom 18. Dezember 2024.
- ↑ If I Must Die: Poetry and Prose by Refaat Alareer. In: Publishers Weekly. Abgerufen am 31. Dezember 2024.
- ↑ If I Must Die. (orbooks.com [abgerufen am 2. Januar 2025]).
Personendaten | |
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NAME | Alareer, Refaat |
ALTERNATIVNAMEN | Rifʿat al-ʿArʿīr (korrekte Übersetzung); رفعت العرعير (arabisch) |
KURZBESCHREIBUNG | palästinensischer Lyriker, Schriftsteller, Essayist, Aktivist und Hochschullehrer |
GEBURTSDATUM | 23. September 1979 |
GEBURTSORT | Gaza |
STERBEDATUM | 6. Dezember 2023 |
STERBEORT | Gaza |