Es ist mitten in der Nacht, als die Kutsche des Kaisers sich dem Fluss nähert, der die beiden größten Imperien Europas voneinander trennt. Der Herrscher steigt aus und tauscht Mantel und Zweispitz gegen die Uniform eines polnischen Lanzenreiters, um unerkannt zu bleiben. Stundenlang reitet er das Ufer ab – bis er die ideale Stelle für den Übergang gefunden hat. Hier werden seine Soldaten nach Russland einfallen, die größte Armee jener Zeit, rund eine halbe Million Krieger. Geführt von ihm, dem erfolgreichsten Feldherrn des Kontinents, soll die Streitmacht das Zarenreich bezwingen, ihn selbst seinem Traum von der Weltherrschaft näher bringen. Das Schicksal kann es gar nicht anders wollen.
Tatsächlich aber ist jener Schritt über den Fluss Njemen, den Frankreichs Kaiser Napoleon am 24. Juni 1812 unternimmt, der erste in seinen Untergang.
In den Wirren der Französischen Revolution ist der Sohn eines korsischen Kleinadeligen emporgestiegen, hat als Militär Karriere gemacht. Mit 24 Jahren wird er als einer der Jüngsten zum Revolutionsgeneral, beweist bald seine herausragenden strategischen Fähigkeiten – und seine Ambitionen. Als Held gefeiert, nutzt er eine Krise der Regierung, um sich mit anderen Verschwörern 1799 an die Spitze des Staates zu putschen. Er modernisiert Verwaltung und Wirtschaft, erlässt ein bürgerliches Gesetzbuch, geht jedoch hart gegen jede Opposition vor. 1804 krönt er sich zum Kaiser, nur zwölf Jahre nachdem die Franzosen ihre Monarchie beseitigt haben.
Napoleon betreibt eine aggressive Expansionspolitik – getrieben von Großmachtstreben und dem Bewusstsein, seine Diktatur durch immer neue Erfolge stützen zu müssen. Binnen Kurzem erobert er einen Großteil Europas, kontrolliert ein Territorium, das sich von Norddeutschland bis Süditalien, von der Iberischen Halbinsel bis Polen erstreckt. Doch als er Russland angreift, endet der Hegemoniewahn in der militärischen Katastrophe.
Nun wird er von Europas Mächten gejagt, muss 1814 abdanken, kehrt noch einmal zurück, geht im belgischen Waterloo endgültig unter. Seine letzten Jahre verbringt er in der Verbannung – auf einer Insel im Nichts.
GEOEPOCHE erzählt die Geschichte eines der mächtigsten Emporkömmlinge aller Zeiten. Eines jähzornigen Egomanen und ruhmsüchtigen Modernisierers. Eines ebenso akribischen wie gnadenlosen Militärs, der im Namen der Freiheit Millionen Menschen unterwarf und Hunderttausende auf den Schlachtfeldern opferte.
Eines Mannes, dessen Aufstieg ebenso dramatisch verlief wie sein Niedergang. Und der Europa prägte wie kaum einer vor und nach ihm.
Die nächste Ausgabe von GEOEPOCHE erscheint am 20. Juni 2012