Aus dem Kurs: Grundlagen der Gestaltung: Wahrnehmung, Kommunikation, Konzeption & Bewertung

Was ist gestalterisches Sehen?

Wir leben in einem visuellen Zeitalter. Wir machen uns von allem am liebsten ein Bild. Wir visualisieren beständig Sachverhalte und Zusammenhänge bis hin zur unvermeidbaren PowerPoint-Visualisierung, die oftmals mehr verschleiert, als sie verständlich macht. Der Sehsinn ist besonders ausgeprägt; von jeher, denn der Mensch ist ein Augentier. Sehen nimmt in der menschlichen Wahrnehmung den größten Anteil ein. Der Gesichtssinn ist die physiologische Sehfähigkeit, das heißt die Fähigkeit von Organismen, sich mithilfe von Lichtsinnesorganen, den Augen, in der Umwelt zu orientieren. Sehfähigkeit, wie wir sie verstehen, wird aber erst dann erreicht, wenn Abbilder der Umwelt im Gehirn erzeugt werden können. Menschen besitzen diesen Gesichtssinn mit komplexer Sehfähigkeit und können mit den Augen Farben, Formen, Größen, Bewegungen, Distanzen, Entfernungen, Texturen erkennen. Alles beginnt mit dem richtigen Blick. Die zentrale Grundvoraussetzung in der Welt der Medien und der Mediengestaltung ist, neu sehen zu lernen. Diese Sicht auf die Dinge nimmt die Umwelt anders wahr und sieht mehr als das normale, erkennende und rein identifizierende Sehen. Ein an Gestaltung geschultes Auge erkennt nämlich zusätzlich ästhetische Momente und Dimensionen. Vor allem besitzt es die Fähigkeit, Bildhaftigkeit und Bildaufbau, die Komposition des Gesehenen genauestens zu analysieren. Dieses gestalterische Sehen kann man lernen. Wir steigen gleich ein in das gestalterische Sehen. Ich zeige Ihnen jetzt ein Bild, das Sie sich sonst so vermutlich nie angeschaut hätten. Was sehen Sie? Welches Gefühl beschleicht Sie? Welche Tageszeit haben wir hier? Ist es ein sonniger Tag? Welche Jahreszeit? Gibt es Dinge, die Ihnen besonders ins Auge fallen? Warum? Sie haben eine Minute Zeit. ♪ (entspannende Musik) ♪ Es ist ein sonniger Tag, wegen der klaren Schatten, die sind lang. Es ist vermutlich morgens im Frühling. Die Farben sind frisch, aber kühler als im Sommer, wir sehen Blätter. Trotzdem hat das Bild etwas Beklemmendes. Der Betonboden wirkt grau und hart. Auch das Geländer und die harten Schattenlinien lassen uns nicht wirklich zu positiven Assoziationen kommen. Wir machen gleich weiter, noch ein zweites Beispielbild. Auch dieses würden Sie vermutlich sonst nie länger anschauen. Wieder die Fragen: Was sehen Sie? Wie sehen Sie? Welches Gefühl beschleicht Sie? Wie viele Menschen spiegeln sich in dem Auto? Sehen Sie den Fotografen? Welche Tageszeit ist es? Sie haben wieder eine Minute Zeit. ♪ (entspannende Musik) ♪ Der Fotograf befindet sich links über dem Rücklicht. Und noch ein drittes Bild; ich hoffe, dass Sie jetzt keinen Hunger bekommen. Wieder die Frage: Wie viele Menschen können Sie erkennen? Eine Minute Zeit. ♪ (entspannende Musik) ♪ Ich sehe vier Frauen, die sich in dem Tresen spiegeln, große und kleine; verschiedene Teile, die wir im Kopf zusammenfügen und dann ganze Personen erkennen. Anstrengend? Genau hinsehen muss man lernen. Dies ist der erste Schritt zum gestalterischen Sehen. Sie müssen hingucken, Sie müssen genau hingucken und Sie müssen das, was Sie gesehen haben, auch wiedergeben können.

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