Dieser Artikel steht im Zusammenhang mit dem Make City-Festival - dem berlinweiten Festival für Architektur, Urban Design, Urban Commons/öffentliche Güter und partizipative Stadtentwicklung. Es findet vom 11. bis 28. Juni 2015 an verschiedenen Orten statt. Die Heinrich-Böll-Stiftung ist eine Haupt-Kooperationspartnerin von Make City im Gründungsjahr.
Fabienne Hoelzel wird am 17. Juni bei Make City sprechen:
Top down oder bottom up? Globale Strategien erfolgreicher Stadtentwicklung
Sowohl in den Industrie- als auch in den Schwellen- und Entwicklungsländern fordert die Bevölkerung zunehmend eine Beteiligung an der Planung ihrer Städte ein. Was man über erfolgreiche Stadtentwicklung im globalen Vergleich lernen kann.
Die globale Urbanisierung hat viele Gesichter. Auf der einen Seite ist eine wachsende Demokratisierung und Diversifizierung einer immer urbaneren Gesellschaft zu beobachten und auf der anderen Seite eine zunehmende private Macht- und Geldkonzentration. Dies gilt sowohl für hochentwickelte, hochurbanisierte als auch für sich entwickelnde oder sogenannte Schwellenregionen, die den zu erwartenden Urbanisierungsprozess erst noch vor sich haben oder mitten drin sind.
Demokratisierung
Urbanisierung wird mit Fortschritt – oder der Hoffnung auf letzteren – gleichgesetzt, doch damit wachsen in der Regel auch die Ansprüche. China etwa peitscht das Land förmlich ins urbane Zeitalter und investiert so viel wie keine andere Volkswirtschaft in Forschung, Entwicklung und Innovation. Die Machtelite verweigert aber ihren Bürgern und Bürgerinnen (noch) die politische Mitsprache und die freie Meinungsäußerung. Dieser Widerspruch wird auf die Dauer kaum aufrecht zu erhalten sein. Die nächsten Jahre dürften für Chinas politische Führung aus diesem Grunde äußerst schwierig und herausfordernd werden.
Die Politelite des seit mehreren Jahrzehnten demokratisch regierten Brasiliens bekommt dagegen die Wut und den Protest der massiv gewachsenen Mittelschicht schon länger zu spüren. Die Menschen verlangen eine Gegenleistung für die relativ hohen Steuerabgaben, die sie zu leisten haben. Dazu gehören eine umfassende Stadtentwicklungs- und Wohnbaupolitik, bezahlbarer und angemessener öffentlicher Verkehr für die breite Masse sowie ansprechend gestaltete, sichere und gut unterhaltene öffentliche Räume.
Selbst in Nigeria, das sich seit vielen Jahren in einer sozialen und politischen Dauerkrise befindet, haben die Menschen genug von korrupten Politeliten, die das Land abwirtschaften und nicht fähig sind, die absoluten Basisleistungen wie funktionierende Strassen, intakte Stromversorgung, bezahlbaren Wohnraum sowie öffentliche Verkehrsmittel zur Verfügung zu stellen, die dem bevölkerungsreichsten afrikanischen Land – jeder sechste Afrikaner ist Nigerianer – die dringend benötigte Entwicklung ermöglichen würde. Ob die kürzlich neu gewählte Regierung um Muhammadu Buhari die hohen Erwartungen erfüllen kann, bleibt abzuwarten. Doch ist Ende März 2015 zum ersten Mal in Afrika eine Regierung demokratisch abgewählt worden und hat diese Niederlage auch kampflos akzeptiert. Dies und die rege Berichterstattung in den digitalen und sozialen Medien im Vorfeld sind hoffentlich Ausdruck einer erwachenden kritischen Zivilgesellschaft.
In den hochentwickelten Regionen Westeuropas, die, wie etwa die Schweiz, teilweise sogar eine halbdirekte Demokratie mit Volksinitiativen und regelmäßig stattfindenden Volksabstimmungen haben, reden immer mehr wechselnde Gruppierungen und Interessensgemeinschaften mit, deren Entscheidungen aber immer weniger vorausschaubar sind. Gleichzeitig wird der Ruf nach mehr Partizipation in Stadtentwicklungsprozessen lauter. Die Auseinandersetzung über viele Bürgerproteste und Innovationen auf kommunaler Ebene haben besonders in den letzten zehn Jahren einen Paradigmenwechsels in der Planungskultur eingeleitet – weg von simplen, hierarchischen Befehl- und Weisungsketten hin zu netzwerkartig und multiskalar organisierten Planungsprozessen. Partizipationsplattformen wie NextHamburg oder NextZürich initiieren Projekte online und in regelmäßig stattfindenden Workshops. Sie schaffen damit bei der interessierten Öffentlichkeit Verständnis für Stadtplanungs- und Entwicklungsprozesse – eine wichtige Voraussetzung um erfolgreich partizipieren und Verfahren tatsächlich beeinflussen zu können.
Privatisierung und Liberalisierung
In eine völlig andere Richtung geht der weltweit massiv angewachsene Einfluss des privaten Sektors, was wiederum eine Folge der Globalisierung und Liberalisierung der Märkte seit ungefähr der 1980er Jahre ist. Dieser nimmt in vielen Bereichen der Stadtentwicklung und des Stadtmanagements eine immer wichtigere oder gar dominierende Rolle ein, etwa in der Stromversorgung, der Müllentsorgung, aber auch der Planung, dem Bau und dem Unterhalt von ganzen Quartieren, was starke Macht- und Geldverschiebungen sowie -konzentrationen in intergouvernementalen Prozessen zur Folge hat. Herausfordernd ist dies insbesondere dann, wenn mächtige private Player, die sich nicht an Rechenschaftspflichten und Transparenzstandards halten müssen, die üblicherweise für die öffentliche Hand gelten, auf politische Strukturen treffen, die durch kaum ausgebildete Institutionen, schwache Governance und grassierende Korruption gekennzeichnet sind. Dies ist beispielsweise in vielen afrikanischen Städten der Fall und führt zu einer Stadtplanung, die praktisch zu hundert Prozent vom privaten Sektor dominiert wird und seit wenigen Jahren von chinesischen Investoren, die im Gegensatz zur traditionell punktuellen Entwicklungshilfe des Westens vor allem in großmaßstäbliche Infrastrukturbauten und in den Bau neuer großer Stadtteile investiert.
Neue Rolle für entwerfende und planende Fachleute
Beide Tendenzen, so gegenteilig sie auch sein mögen, führen zu einer fragmentierten Stakeholder- und Akteurslandschaft, deren Steuerung, Einbezug und Aktivierung hohe Anforderungen an Stadtplanerinnen, Stadtentwickler, Städtebauerinnen und Architekten stellt. Es ist kein Zufall, dass "Governance" und "Leadership" im Zusammenhang mit Stadtplanung und Stadtentwicklung viel diskutierte Begriffe in Forschung und Praxis geworden sind. Die genannten Entwicklungen verlangen im Prinzip nach einem neuen Berufsverständnis der planenden und entwerfenden Disziplinen, das sich nicht länger in der Arbeit im Auftrag Dritter erschöpfen kann. Sondern es bedingt eine aktive Rolle in den neuen komplexen Netzwerken der beteiligten Akteure in Raumplanungs- und Städtebauprozessen, die weit über das ursprüngliche Berufsbild hinausgehen sollte –falls die Planende und der Entwerfende die Stadtentwicklung entscheidend mitbestimmen möchte.
Beteiligungsprozesse in Schwellen- und Entwicklungsländern
Um wegweisende Beispiele für innovative Stadtplanungsprozesse und Beteiligungsverfahren zu finden, lohnt sich ein Blick über den westeuropäischen Tellerrand hinaus, um von jenen zu lernen, denen gegenüber wir uns in der Regel befugt sehen Lehren zu erteilen.
In der Stadt São Paulo etwa leben 11 Millionen Menschen, davon rund ein Drittel in Favelas unter prekären hygienischen Verhältnissen sowie bescheidenen Bildungs- und Verdienstmöglichkeiten. Die knapp vier Millionen Bewohner und Bewohnerinnen der Favelas besetzen jedoch nur einen Zehntel des städtischen Territoriums. Die Bevölkerungsdichte ist entsprechend hoch, jeder Quadratzentimeter ist besetzt. Öffentlichen Raum abseits von Kindergärten, Schulen und Kirchen gibt es kaum, jeder verwertbare Raum ist bewohnt und die engen Straßen werden zunehmend von Autos verstopft. Nicht bebaubare Flächen fungieren meist als Müllhalden.
São Paulo und andere brasilianische Städte verfolgen allerdings seit vielen Jahren institutionalisierte Slum-Upgrading-Programme, die beachtliche Resultate vorweisen können. Auf ihnen gründet ein strategischer, behördenverbindlicher Masterplan, der durch das Parlament verabschiedet wird und vorschreibt, dass Bevölkerung und Regierung in einem gemeinsamen Aufsichtsrat die Planung und Umsetzung von Stadtplanungsprojekten auf Augenhöhe überwachen müssen. Das kann heißen, dass ein aus städtebaulicher Sicht zu verdichtendes Stück Land frei bleiben muss, weil dort der lokale Fussballplatz ist, oder dass eine neue Durchgangsstrasse auch einmal einen Knick und streckenweise eine Spurverjüngung bekommt, weil einige Familien ihre Häuser (zunächst) nicht verlassen wollen. Es geht also weniger um den perfekten Plan, als um Ergebnisse, die laufend gefunden sowie langfristig diskutiert und umgesetzt werden.
Simple, lineare Befehlslinien, die sich über klassische Hierarchien, Funktionen und Zuständigkeiten definieren, werden immer mehr durch komplexe Akteurs-Netzwerke ersetzt. Es bedeutet aber auch, dass der Architekt und die Städtebauerin in einer von Korruption und Kartellen charakterisierten Bauindustrie hart für ihre Interessen kämpfen müssen – mit unterschiedlichen Erfolgsaussichten. Das verlangt insbesondere von Planern und Architektinnen Flexibilität und starke Nerven; Management nach Lehrbuch oder Rückzug in den Elfenbeinturm helfen da kaum. Alle Beteiligten – Regierung, Planer/innen, Architekt/innen, Bevölkerung, Nichtregierungsorganisationen – müssen von Beginn an mit klar und transparent kommunizierten Interessen an den oft mühsamen und langwierigen Verhandlungen teilnehmen. Entwerfende, Planende, aber auch internationale Organisationen und Geldgeber müssen lernen, dass die betroffenen Menschen oft besser wissen, was sie brauchen, währenddessen Bevölkerung und Anwohner/innen lernen müssen, dass nicht nur die eigenen Interessen gelten, sondern es so etwas wie ein übergeordnetes "Gemeinwohl" gibt.
Die Erarbeitung des "Regeneration Plan" für Makoko, eines von Dutzenden Armenvierteln in Lagos, Nigeria, der 2014 für den Fuller Challenge nominiert wurde, ist ein anderes Beispiel für einen Stadtentwicklungsprozess, der durch ein jahrelanges, zähes Ringen zwischen allen Beteiligten gekennzeichnet war und ist. Als das Quartier, eine prekäre Siedlung in und an der seichten, ungefähr ein bis zwei Meter tiefen Lagune von Lagos, teils auf Stelzen im Wasser, teils auf von Hand und durch Müll und Sand gewonnenem "Land" im Sommer 2012 vom Abriss durch die Regierung bedroht war, hat sich die Kommune mit diversen NGOs und internationalen Städtebau- und Planungsspezialisten in einem Netzwerk zusammengeschlossen. In unzähligen Sitzungen und Workshops mit den Anwohnerinnen und Anwohnern sowie einer Reihe von "Echoräumen" mit Fachspezialist/innen aus den verschiedensten Disziplinen konnte ein städtebauliches Framework mit verschiedenen Strategien sowie einigen Leuchtturm- oder Katalysatorprojekten erarbeitet und der Regierung im Februar 2014 vorgestellt werden. Einer der städtebaulichen "Katalysatoren", der sogenannte Makoko Neighborhood Hotspot, eine Art Gemeinschaftszentrum, das als dezentrale Energieproduktions- und Abfallentsorgungsstruktur konzipiert ist, befindet sich derzeit im Bau.
Dem Baubeginn ist nochmals ein fast zehnmonatiger, zäher Aushandlungsprozess vorausgegangen, im Laufe dessen die Kommune den Bauplatz ausgewählt hat. Erschwerend wirken die für afrikanischen Gesellschaften die zutiefst undemokratischen Gesellschaftsstrukturen, die auf Zugehörigkeit zu Sippen und "königlichen" Familientraditionen gründen. Paradoxerweise verstärkt man letztere durch partizipatorische Gemeinschaftsprojekte eher noch, da man zu Beginn eines Projekts gezwungen ist, mit den ausschließlich männlichen Stammesführern zu verhandeln, die aber wiederum primär ihre eigenen Interessen vertreten und nicht jene der "Untergebenen". Diese Konstellation erschwert es zunächst, ein stabiles Vertrauensverhältnis mit der Kommune aufzubauen und verlangt Geduld und Fingerspitzengefühl. Im Falle des Makoko Neighborhood Hotspot wird derzeit in Zusammenarbeit mit einer lokalen Menschenrechtsorganisation eine Kooperative gegründet, deren zwölf Mitglieder aus je zwei Personen der verschiedenen Kommunen und Stämme innerhalb Makokos zusammengesetzt ist. Insgesamt sind immerhin zwei Frauen und der Vertreter der Jugendbewegung mit dabei und lediglich zwei Stammesführer, was einer kleinen Revolution gleichkommt. Die Kooperative wird einen Präsidenten und einen Sekretär wählen und sich für den Unterhalt des Hotspots verantwortlich zeichnen. Dieser Schritt ist einerseits notwendig um den Betrieb und damit die beabsichtigte Wirkung des Projekts sicherzustellen, aber auch um demokratischere Beteiligungsstrukturen innerhalb der Gemeinschaft aufzubauen. Die Regierung schaut diesem Treiben zunächst unbeteiligt zu, hat das Projektteam aber zur Implementierung des erwähnten Neighborhood Hotspot ermuntert, da sie im Prinzip an neuen (funktionierenden) Ansätzen äußerst interessiert ist.
Governance? Leadership ist entscheidend!
Es mag eine gewagte These sein, aber das Fehlen von stabilen und kompetenten rechtsstaatlichen Institutionen kann für couragierte Fachleute und die betroffene Bevölkerung Innovationspotential in der Stadtentwicklung bedeuten, wenn jene gewillt sind, diese Lücken zu füllen. Die Abwesenheit jeglicher Infrastruktur und die reale Bedrohung der endgültigen Räumung durch die Regierung haben schließlich zum Entwurf und zur Implementierung des Makoko Neighborhood Hotspots geführt, der auch als "Micro Governance Tool" konzipiert wurde und der Bevölkerung ermöglichen soll, sich selber zu verwalten. Die Hoffnung ist natürlich, dass die Regierung sich irgendwann am Bau und Unterhalt weiterer Hotspots beteiligen wird. Viele Favela-Bewohnerinnen und -bewohner in Brasilien sagen übrigens, dass die systematische Aufwertung der Armenviertel auf ihrer Eigeninitiative und Selbstorganisation beruht, mit der sie auf ihre Anliegen aufmerksam gemacht haben.
Die Frage, ob gute Stadtentwicklung nun besser Top-Down geplant oder Bottom-Up initiiert wird, ist in diesem Sinne falsch gestellt. Es braucht ohne jeden Zweifel beides. Top-Down-Stadtplanung garantiert nicht zuletzt Planungs- und Rechtssicherheit sowie Gleichheit und Zweckmäßigkeit, aber ermöglicht auch die Implementierung großer, übergeordneter Richtlinien und Bauten – wenn wir von der Prämisse eines demokratischen und funktionierenden Rechtsstaats ausgehen, der über transparent kommunizierte Regierungsprogramme und -budgets verfügt wie es etwa in Westeuropa der Fall ist. Es geht vielmehr darum, wie und wann Top-Down und Bottom-Up zusammenkommen können. Das verlangt auf der einen Seite, Kontrolle abzugeben und loszulassen – gerade Planer/innen und Architekt/innen mögen dies in der Regel gar nicht, aber auch Regierungsinstanzen stehen dem eher skeptisch gegenüber – sowie auf der anderen Seite das Entwickeln von konstruktiver Initiative, praktikabler Kreativität und intelligenter sowie langfristiger Strategie. Und es braucht vor allem Leadership. Es mag seltsam banal klingen, aber letzteres wird in erster Linie über Erfolg oder Misserfolg eines Projekts oder Programms entscheiden. Je fragmentierter die Akteurs-, Stakeholder- und Interessenslandschaft wird, umso entscheidender ist diese Fähigkeit.