Entwicklungstrauma – Wenn Kinder ein negatives Selbstbild prägt

Unter einem Entwicklungstrauma leiden viele. Die meisten Erwachsenen wissen jedoch nichts davon, haben aber mit den Folgen ihres kindlichen Entwicklungstraumas zu kämpfen.

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Entwicklungstrauma noch zu wenig beachtet

Entwicklungstraumata haben schwerwiegende Folgen im Erwachsenen-Leben.

Entwicklungstrauma – die Mutter aller psychischen Störungen?

Nach Schätzungen vieler Psychologen wird das Entwicklungstrauma noch viel zu wenig beachtet. Doch einige Fachleute meinen, das Entwicklungstrauma sei die eigentliche Mutter aller Krankheiten und psychischen Störungen für Erwachsene.

Oft wird extrem unterschätzt, dass gerade frühe emotionale Verletzungen in der Kindheit erhebliche Ausmaße besitzen, die das spätere Leben als Erwachsene*r stark beeinträchtigen können.

Dabei muss es nicht immer ein schwerwiegendes Ereignis sein, das zu einem Entwicklungstrauma führt. Meist reichen unscheinbare, doch prägende Erfahrungen, durch die Kinder ein negatives Selbstbild entwickeln. Grund genug, sich näher mit dem Thema zu beschäftigen und auf die kleinen, alltäglichen Dinge in der Erziehung zu achten.

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Entwicklungstrauma Definition:

– Was ist ein Entwicklungstrauma?

Allgemein entsteht unser Selbstbild und Selbstwertgefühl sowie die Einstellung zum Leben in unserer frühen Kindheit. Was in den ersten Lebensjahren erfahren und erlebt wird, prägt jeden Menschen auch im Erwachsenenalter.

Obwohl sich die meisten von uns nicht an die früheste Kindheit erinnern können, lebt sie weiter in uns fort: als unbewusste Glaubenssätze und kognitive Schemata, die unser Leben stark beeinflussen.

Sind diese frühen Prägungen von negativer Natur, dann sprechen Psychologen von einem Entwicklungstrauma.

Die Folgen eines Entwicklungstraumas sind unterschiedlich: sie reichen von einem geringen Selbstwertgefühl über unverhältnismäßige Schuld- und Schamgefühle bis hin zu Depressionen & Ängsten.

Vgl. auch Kinderarmut & Scham

 

Entwicklungstraumata speichern sich im Körper und der Psyche ab

Jede Art von psychischen Störungen oder Traumata sind nicht nur Kopfsache, sondern betreffen die körperliche und die geistige Ebene gleichermaßen. Körper und Psyche stehen in Wechselwirkung.

Die medizinische Forschung weiß heute, dass wir bereits im Mutterleib erste Prägungen erfahren. Die emotionale Verfassung der Mutter wirkt sich direkt auf den Fötus aus. Genauso wie nach der Geburt: Babys spüren Stress, Angst, Wut etc. des Umfeldes und brauchen Bezugspersonen, um mit diesen Gefühlsüberflutungen zurechtzukommen.

Wird das dem Kind nicht vermittelt, speichern sich derartige Lernerfahrungen auf ungünstige Weise ab.

Die negative Prägung durch ein Entwicklungstrauma zeigt sich aber nicht nur im Verhalten von Menschen, sondern auch messbar in ihrem Nervensystem:

Kinder & Erwachsene, die emotional vernachlässigt wurden oder ein Entwicklungstrauma durchmachen mussten, zeigen identische Merkmale im Nervensystem wie Personen, die Gewalterlebnisse, Unfälle oder ein Schocktrauma durchlaufen haben.

 

Entwicklungstrauma oder Schocktrauma

- Wo liegen die Unterschiede?

Das Schocktrauma ist das, was wir alle unter einem Trauma verstehen: etwas passiert, wie ein Unfall, und das Szenario speichert sich in unserem Gehirn ab. Wichtig: Es geht hier um einmalige Ereignisse!

Um uns vor weiteren Gefahren zu schützen, geht unser Organismus auf Hab-Acht-Stellung und reagiert sensibler auf Sinnesreize. Sobald ein Trigger auftaucht, reagieren wir mit Flucht oder Kampf.

Anders beim Entwicklungstrauma, das sich ausschließlich auf Ereignisse in der frühen Kindheit bezieht. Hier war das Kind über einen längeren Zeitraum hohem Stress ausgesetzt – meist mit dem permanentem Gefühl, nirgendwo richtig und sicher zu sein.

Die Folgen eines Entwicklungstraumas sind oftmals viel einschneidender, da sich betroffene Kinder nicht normal entwickeln können.

Auf diese Weise greift ein Entwicklungstrauma tief in den Persönlichkeitsaufbau von Kindern ein.

 

Entwicklungstrauma und Bindungstrauma

Wird gerne als Synonym verwendet, ist aber etwas anderes: Das Bindungstraumata ist Bestandteil von Entwicklungstraumata.

Fehlt es uns im Kindesalter an einer sicheren, festen und zuverlässigen Bezugsperson, entsteht ein Bindungstrauma. Betroffenen fällt es sichtlich schwer, sich auf Neues einzulassen und neugierig ins Leben zu gehen.

Als Erwachsene*r fällt es uns dann sehr schwer, Partnerschaften einzugehen oder überhaupt zu vertrauen.

 

Entwicklungstrauma Symptome & Anzeichen

Es ist schwer, die Anzeichen eines Entwicklungstraumas im Kindes- und Erwachsenenalter von anderen problematischen Traumafolgestörungen zu unterschieden. Die Symptome für Entwicklungstraumata sind vielschichtig und vielgestaltig:

  • Bindungsprobleme

  • Konzentrationsprobleme

  • Einsamkeit

  • Hochsensibilität

  • Sich nicht abgrenzen können

  • emotionale Instabilität

  • Suchtkrankheiten

  • Ess-Störungen

  • hohe Reizbarkeit & Aggressivität

  • Schlafstörungen und Albträume

  • Depressionen

  • Unsicherheitsgefühle

  • Erschöpfung und Müdigkeit

  • Ängste bis hin zu Panikattacken

  • Flashbacks

  • Schreckhaftigkeit

  • innere Unruhe

  • chronische körperliche Probleme

 

Ursachen von Entwicklungstraumata

– Wie entsteht ein Entwicklungstrauma?

Anders als das Wort Trauma vermuten lässt, müssen beim Entwicklungstrauma nicht unbedingt schwerwiegende Ereignisse vorliegen. Sehr oft sind es kleine Geschehnisse, die uns aus der Sicht eines Erwachsenen völlig belanglos vorkommen. Doch auch kleine Vorkommen im zwischenmenschlichen Bereich genügen, um ein Entwicklungstrauma auszulösen.

Mögliche Gründe für ein Entwicklungstrauma:

 

Seelische Verletzungen in der Kindheit

- Beispiel für unscheinbare Ereignisse mit traumatischen Folgen

Ein simples und doch häufiges Beispiel für die Entstehung eines Entwicklungstraumas kann die Geburt eines Geschwisterkindes sein. Kommt das Geschwisterchen in der frühen Entwicklungsphase des ersten Kindes zur Welt, hat das vielfältige Auswirkungen. Während die Eltern das Ereignis als freudig und schön empfinden, kann das erstgeborene Kind ganz andere Gefühle aus der Situation heraus entwickeln.

  • Schließlich muss das kleine Kind sehr früh lernen, seine eigenen Bedürfnisse zurückzustellen, vielleicht sogar Verantwortung für das Geschwisterchen tragen und sich um sein Wohlergehen kümmern.

  • Denkbar ist auch ein Vertrauensverlust zu den Eltern, weil das Kind plötzlich nicht mehr im Fokus der Eltern steht. So als würde das Neugeborene ihm alle Liebe rauben.

Das sind Dinge, die natürlich völlig unbewusst ablaufen. Und nicht jedes Geschwisterkind entwickelt ein Trauma. Doch helfen die Eltern nicht, die Emotionen und Bedürfnisse des Kindes zu reflektieren und zu verarbeiten, besteht die reale Gefahr für dieses Szenario.

Als Erwachsener kommt es so zu dysfunktionalen Denkweisen und Verhaltens. Zum Beispiel, dass wir uns für andere ständig aufopfern und überfordern. Oder überzeugt sind, dass wir es nur wert sind geliebt zu werden, wenn wir etwas leisten. Auch ein starkes Kontrollbedürfnis und Misstrauen gegenüber Freunden und Partnern kann sich aus diesem Entwicklungstrauma herausbilden. Vgl. auch: Kind hat keine Freunde im Kindergarten – Ursachen & Tipps

 

Folgen des Entwicklungstraumas als Erwachsene*r

Das frühkindliche Trauma und seine Spätfolgen

Ist das kindliche Selbstbild und Selbstwertgefühl derart brüchig, sind die Folgen im Leben als Erwachsener wirklich schwerwiegend und schränken die Lebensqualität ein.

  • Minderwertigkeitsgefühle (ständige Selbstzweifel)

  • Kontrollbedürfnis

  • Selbstüberforderung

  • Angst, abgelehnt zu werden

  • hohe Vulnerabilität (Verletzbarkeit)

  • niedrige Stress-Toleranz

  • wenig Lebensfreude

  • verzerrte Selbstwahrnehmung

  • Anfälligkeit für psychische Krankheiten, insbesondere Persönlichkeitsstörungen und affektive Störungen

  • psychosomatische Probleme

  • schlechte Selbstregulation

  • hohe und dauerhafte Aktivierung des Nervensystems = Dauerstress

  • Probleme sich Abzugrenzen und Grenzen zu ziehen

  • Beziehungsstörungen

 

Wie sieht eine gesunde Entwicklung aus?

Die frühe Entwicklungsphase dauert von der Entwicklung im Mutterleib über die Geburt und die ersten Lebensmonate bis ins 3. oder 4. Lebensjahr eines Kindes an. Alles, was ein Kind in dieser Zeit erlebt, hört, sieht und sonst irgendwie wahrnimmt, beeinflusst seine Entwicklung essenziell.

Pädagogen und Kinderpsychologen betonen einhellig, wie wichtig es ist, dass wir Kindern in dieser Phase einen gesunden Selbstwert vermitteln. Dazu gehören Werte und Sicherheiten wie:

  • Ich bin gut so, wie ich bin

  • Ich habe meinen Platz hier in der Familie und auf der Welt

  • Ich gehöre dazu

  • Ich darf Bedürfnisse haben

  • Ich darf meine Bedürfnisse äußern

  • Ich kann anderen vertrauen

  • Ich werde geliebt, egal ob ich Leistung erbringe oder nicht

Das alles sind wichtige Prinzipien, die dazu beitragen, dass Kinder resilient werden und ein gesundes Selbstwertgefühl entwickeln können.

Weitere Details zum Thema hier: Grundbedürfnisse von Kindern – Was macht Kinder glücklich? und hier: Entwicklungsstufen – 6 Entwicklungsphasen (Piaget, Freud & Co.)

 

Entwicklungstrauma Therapie:

frühkindliches Trauma behandeln lassen

Bei einem Entwicklungstrauma wie auch bei anderen psychischen Problemen, ist es nicht damit getan, darüber zu reden. Leider hält sich hartnäckig die naive Vorstellung, man müsse einfach zu irgendeiner Gesprächstherapie gehen und solange über das schreckliche Ereignis sprechen, bis der Schmerz vergeht.

Das reicht aber bei Weitem nicht. Traumata benötigen spezielle und oft längere Traumatherapien.

Ein Entwicklungstrauma ist ein ernstes Problem für die Allgemeingesundheit. Zögere bitte nicht, dir professionelle Hilfe zu holen.

Vgl. auch: Selbstbewusstsein bei Kindern stärken – 10 Übungen & Tipps


Quellen:

1) Jürgen Heinrich: Auswirkungen der frühen Lebensjahre auf die Persönlichkeit im Erwachsenenalter
2) Karin Becker-Weißkopf: Ein Entwicklungstrauma entsteht …
3) Damie Charf: Entwicklungstrauma
4) Claudia Leinert: Habe ich vielleicht ein Entwicklungstrauma?
5) Constanze Rilke: Trauma
6) Christoph Krüger: Entwicklungstrauma – die unterschätzte Störung in der Praxis
7) Österreichische Ärztezeitung: Kindliche Traumatisierung: Ein Leben lang
8) Elke Garbe: Das kindliche Entwicklungstrauma – verstehen und bewältigen
9) Dami Charf: Trauma Kategorien – Welche Arten von Trauma gibt es?
10) Sandra Quedenbaum: Schocktrauma und Entwicklungstrauma
11) Anne Albinus: Entwicklungstrauma (Bindungstrauma) – Was ist das eigentlich?
12) Verena König: Was für Arten von Trauma gibt es?
13) Dami Charf: 3 Irrtümer über Trauma

Tamara Niebler

Tamara ist studierte Philosophin (Mag. phil.) & freie Journalistin in München. Sie unterstützt unsere Redaktion mit jeder Menge Fachwissen und kritischen Denkanstößen. Tamaras Motto: „Wege entstehen dadurch, dass wir sie gehen“ (Franz Kafka)

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