Japans Selbstmordfelsen

„Die allermeisten wollen eigentlich nicht sterben“

Von Sonja Blaschke
Veröffentlicht am 03.05.2023Lesedauer: 7 Minuten
Yukio Shige in seinem Revier, den Felsen von Tojinbo
Yukio Shige in seinem Revier, den Felsen von TojinboQuelle: Sonja BLASCHKE

Früher stürzten sich im Nordwesten Japans jedes Jahr bis zu 30 Menschen in den Tod: Die Klippen von Tojinbo sind einer der Anziehungspunkte für Lebensmüde. Das Engagement eines ehemaligen Polizisten dort ist mittlerweile für viele die Rettung im letzten Moment gewesen.

Anzeige

Ein dunkel gekleideter Mann bewegt sich langsam auf den Abgrund zu. Bevor es abrupt in die Tiefe geht, legt er sich auf den Bauch und späht vorsichtig die hohen Klippen hinunter auf die Wellen. Der Küstenstrich hier im Nordwesten Japans besteht aus bis zu 25 hohen Basaltsäulen – ein eindrucksvolles Naturphänomen. Der Mann ist ein Tourist, das sieht Yukio Shige schnell, auch ohne das Fernglas, das er immer mit sich führt.

Diese Klippen ziehen Selbstmörder an
Diese Klippen ziehen Selbstmörder anQuelle: Sonja BLASCHKE

Wer ihm ins Auge sticht, das sind Menschen abseits der malerischen Stellen – in sich gekehrt, oft eine Kapuze über den Kopf gezogen, die Arme um den Körper geschlungen, den Blick gesenkt oder starr aufs Meer gerichtet. Man sehe es ihrer „Aura“ an, findet Shige. Er gehe dann zu ihnen hin und beginne ein ganz normales Gespräch. „Guten Tag – was tun Sie hier?“, frage er. Seine Art ist direkt, aber freundlich und zugewandt. Meist brauche es nicht lange bis zur Frage: „Sind Sie hergekommen, um sich umzubringen?“ Ja, sagten viele dann.

Anzeige

Yukio Shige, ein weißhaariger Mann mit wachen Augen hinter einer randlosen Brille, 79 Jahre alt. Seine gebräunte Haut zeugt davon, dass er viel an der frischen Luft unterwegs ist. Vor 19 Jahren gründete der frühere Polizist die Hilfsorganisation Kokoro ni Hibiku Bunshu Henshukyoku.

Der sperrige Name bedeutet in etwa „Redaktionsbüro einer Anthologie von Texten, die das Herz berühren“. Drei Helferinnen und Helfer gehen täglich von 11 Uhr bis zum Sonnenuntergang an der etwa einen Kilometer langen Steilküste von Tojinbo entlang. Sie halten Ausschau nach Menschen, die hergekommen sind, weil sie etwas anderes als touristische Andenken oder idyllische Sonnenuntergänge suchen.

Anzeige
Quelle: OpenStreetMap; Infografik WELT

Nach Aokigahara, einem dichten Waldstück am Fuße des berühmten Berges Fuji, seien es die Klippen von Tojinbo, die die meisten Lebensmüden in Japan anzögen, sagt Shige. Diese kämen typischerweise nicht aus der ländlichen Umgebung in der Präfektur Fukui, sondern aus den mehrere Zugstunden entfernten Großstädten Tokio und Osaka. „Ich appelliere daher öfter mal an die Regierungen dort, dass sie mehr zur Prävention von Suiziden tun sollen“, sagt Shige. „Wenn sie nichts unternehmen, müssen wir das hier ausbaden!“

Es war ein älteres Paar aus Tokio, dessen Wunsch, aus dem Leben zu scheiden, den Ausschlag gab. Die beiden war im September 2003 zunächst von Shige von ihrem Plan abgebracht worden. Bevor sie drei Tage später an einem anderen Ort doch Suizid begingen – „aus Erschöpfung“, wie sie ihm noch schrieben – drückten sie ihre Hoffnung aus, dass andere Menschen nicht diesen Weg einschlagen mögen. Ihr Wunsch zeigt dank Shiges Engagement Wirkung: Früher suchten jedes Jahr 30 Menschen in Tojinbo den Tod, heutzutage sind es zehn. Shige und seine Helfer haben durch ihren erfahrenen Blick und beherztes Ansprechen in knapp 20 Jahren fast 800 Leben gerettet.

Die, die am Ende doch springen, seien überwiegend Männer in ihren Vierzigern und Fünfzigern. Viele wählten eine Stelle gleich am Eingang der Steilküste. „Das ist hier so hoch, als würde man aus dem siebten oder achten Stock springen“, erklärt Shige. Weil das Meer dort etwa 20 Meter tief sei, überlebe ein Drittel, häufig schwer verletzt. Sie werden mit dem Helikopter geborgen und ins Spital gebracht. Shige zeigt noch eine zweite Stelle. Dort warten unten nur Felsen. Die Überlebenschancen gehen gegen Null.

Die wenigen, die es wirklich ernst meinten, würden warten, bis er und seine Leute heimgegangen seien, sagt Shige. „Aber die allermeisten wollen eigentlich nicht sterben“, betont er. Sie hofften, dass sie jemand vor dem letzten Schritt anspreche. Viele litten am Desinteresse ihres Umfeldes oder seien Opfer von Gewalt oder Machtmissbrauch am Arbeitsplatz. Manche fühlten sich von finanziellen Problemen überfordert. Wenn er auf sie zugehe, mit ihnen spreche, auch mal den Arm um sie lege, gehe es vielen schnell besser.

Shige nimmt die Menschen dann mit in ein kleines Café, das seine überwiegend spendenfinanzierte Organisation gleich am Tojinbo-Aussichtsturm, einem 55 Meter hohen Konstrukt aus den 1960ern, betreibt. Die Zimmerwände sind voller Fotos von Besuchern und Zeichnungen mit lächelnden Jizo-Statuen – eine Schutzgottheit für Kinder und Reisende. Daneben stehen Sätze wie: „Solange du am Leben bist, wird auf jeden Fall einmal der Zeitpunkt kommen, an dem du froh bist, dass du es bist“. Für Hungrige gibt es Reiskuchen im Angebot. Für Verzweifelte ein offenes Ohr.

Shige setzt sich an einen Tisch und zieht eine Broschüre hervor, die dank finanzieller Unterstützung des Ministeriums für Gesundheit, Arbeit und Soziales gedruckt werden konnte. Sie soll das Leid der Betroffenen sichtbar machen, ihnen eine Stimme geben. Darin sind Fotos, die Menschen in der Nähe des Abgrunds hockend oder stehend zeigen. Ein Mann streichelt eine der vielen streunenden Katzen in der Einkaufsstraße, die zu den Klippen führt. Die Betroffenen willigten in die Publikation der Bilder ein – ihre Identität wurde unkenntlich gemacht.

„Ich habe Angst vor sozialen Kontakten, und selbst wenn ich einen Job bekam, fand ich doch keine Freunde“, wird ein junger Mann mit beigefarbener Jacke und Kappe zitiert. „Ich habe meine Stelle verloren und Schulden aufgehäuft. Darauf hat sich meine Frau von mir getrennt“, berichtete ein schwarz gekleideter Mann im mittleren Alter. Eine junge Frau, die nach zehn Vorstellungsgesprächen nur Absagen bekam, wollte ihre alleinerziehende Mutter, die sich noch um eine jüngere Tochter zu kümmern hatte, nicht belasten. „Ich war schon in Aokigahara, aber wurde gerettet“, erklärte ein alter Mann. Er leide an Prostatakrebs, doch die Behandlung schlage nicht an, und er wolle seiner Familie nicht mehr zur Last fallen.

Eine Telefonzelle kann Leben retten

Eines der Fotos zeigt einen relativ jungen Mann mit Rucksack und Schirm vor einer Telefonzelle gleich an den Klippen. Er habe vor seinem Suizid noch einmal mit seiner Mutter sprechen wollen. Das komme häufig vor, sagt Shige. Seine Organisation stellt daher sicher, dass in der Telefonzelle – eine der wenigen, die es in Japan heute noch gibt – immer ein paar Münzen sind, außerdem Telefonnummern und Informationen über Hilfsangebote.

90 Prozent der Lebensmüden seien krank, sagt Shige. „Aber Japan liegt 20 Jahre hinter anderen Industrieländern zurück, wenn es um die Behandlung von Menschen mit psychischen Erkrankungen geht“, kritisiert er. „Das Schlimmste hier in Japan sind die Doktoren“, sagt er unumwunden. „Die sind nur auf ihren Profit aus.“ Medikamente seien schließlich schnell verschrieben. Doch was es brauche, seien Angebote für Gesprächstherapie, um die Denkweise der Betroffenen zu ändern, sowie mehr Verständnis in der Gesellschaft. Durchhalteparolen wie das allgegenwärtige „Gambatte“ („Streng dich an, halte durch“) seien der falsche Weg.

Hilfsangebote werden verbessert

Die Lebensrettervereinigung hört den Menschen in ihrer Not nicht nur zu, sondern spricht etwa bei Problemen im Job mit Kollegen und Vorgesetzten und appelliert an einen sensibleren Umgang. Manche Betroffenen werden in einer temporären Bleibe untergebracht, während Unterstützung für sie organisiert wird. Shige hat auch schon vor dem japanischen Parlament in Tokio gesprochen. „Es ist meine Pflicht, Forderungen an die Politiker zu stellen“, sagt er. Vom langsamen Tempo der Fortschritte lässt er sich nicht entmutigen. „In Japan dauert eben alles seine Zeit“, lacht er unverdrossen.

Aufklärungskampagnen sowie bessere und mehr Hilfsangebote haben in den vergangenen gut zehn Jahren dazu geführt, dass die Suizide landesweit deutlich zurückgegangen sind. Tabus und Stigma rund um psychische Probleme haben abgenommen, wohl auch infolge der Verbreitung von positiv besetzten Bezeichnungen für Hilfsangebote wie „Kokoro no kea“ („Pflege des Herzens“).

Waren es in den Nullerjahren noch im Durchschnitt über 32.000 Suizide, ist die Zahl im Jahr 2021 um ein Drittel auf knapp über 21.000 gesunken. An den Klippen von Tojinbo waren es sogar zwei Drittel weniger als früher – sicher auch dank den unermüdlichen Patrouillen von Shige und den Lebensrettern.

Haben Sie suizidale Gedanken oder haben Sie diese bei einem Angehörigen/Bekannten festgestellt? Hilfe bietet die Telefonseelsorge: Anonyme Beratung erhält man rund um die Uhr unter den kostenlosen Nummern 0800 / 111 0 111 und 0800 / 111 0 222. Auch eine Beratung über das Internet ist möglich. Eine Liste mit bundesweiten Hilfsstellen findet sich auf der Seite der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention.


Mehr aus dem Web

Neues aus der Redaktion

Auch interessant