Den Tod nannte sie „Tyrannchen“
Friederike Mayröcker war eine Weltaufschreiberin – und eine der größten Dichterinnen unserer Zeit, die auf ihrer Schreibmaschine vom Typ Hermes Baby ohne ß auskam. „Mein Leben war zu kurz für meinen Lebenstraum“, hat sie gesagt. Sie wurde 96 Jahre alt.
Die schönsten Epitaphe hat Friederike Mayröcker selbst geschrieben: „Mein Leben war zu kurz für meinen Lebenstraum“, so steht es in ihrem Buch „Scardanelli“. Dass der Tod immer zu früh kommt, wusste die Dichterin, und dass er deshalb ein Skandal ist, weil er auch das Ende des Schreibens bedeutet.
„Ich lebe ich schreibe“, das war für die österreichische Schriftstellerin ein einziger Atemzug, das Leben ein Schwingen in Wörtern und die Wörter ein Kulminationspunkt des Lebens. Beim Dichten sei sie „auf der Honigspur“, hat Friederike Mayröcker einmal gesagt, es war die Trance einer Weltaufschreiberin, wie es sie in der europäischen Literatur sonst kaum gegeben hat. Wem die Avantgarde zu herzlos war, der hatte sie hier in allen ihren Sinnen: von den Surrealisten bis zu den Strukturalisten und wieder zurück zur „seeligen Selbstvergessenheit“ eines Friedrich Hölderlins.
Ein fast methusalemisches Alter hat die österreichische Schriftstellerin erreicht, immer noch weiter schreibend, gibt es aber auch ein Alterswerk Friedrike Mayröckers? Wenn ja, dann wurde damit früh begonnen. Die „Abschiede“ des Jahres 1980 sind vielleicht so ein Buch, und spätestens danach ist es immer da, „das Katastrophieren meiner Existenz“, ein Aufrechnen der Freuden mit der Trauer, diesem Passepartout des mayröckerschen Schreibens, das im scharfen Kontrast zum jauchzend beschriebenen Schönen steht.
„Das Ende der Reise“
„Inkliniere zur Einsamkeit“, schreibt die Mayröcker, das gelebte Leben und das Alter bringen „zerfleischte Moleküle“ und „Verwilderungen“. Und dann war da der Tod des berühmten „Hand- und Herzgefährten“ Ernst Jandl im Jahr 2000. Ein „Requiem“ hat Friederike Mayröcker für ihren Lebensmenschen geschrieben, in Versalien ist „ER“ immer wieder in ihren Büchern aufgetaucht, und der Schmerz über Jandls Tod war ein Memento mori:
„Ich bin die geprügelte Seele eines Hundes, sage ich zu IHM, die Stunden die Wochen die Jahre seien so rasch vergangen als säsze man im Zug und die Landschaft flöge vorbei das Ende der Reise sei nahe.“
Mit Ernst Jandl hat die Mayröcker ein Duo von kongenialer Unterschiedlichkeit gebildet, dessen Beziehungsleben in einem Stück voller Konjunktive beschrieben ist. „Aus der Fremde“ heißt die Sprechoper, „eine Chronik der laufenden Ereignislosigkeit“, die vom Alltag des Dichterpaares erzählt, so unspektakulär, dass das eigentlich Sensationelle kaum noch zu erkennen war.
Zwischen Jandl und Mayröcker gab es den poetischen Austausch zweier Solitäre der Literatur. Jeder für sich in einer Kompromisslosigkeit schreibend, einander fern und nah zugleich. Nach Ernst Jandls Tod antwortet Friederike Mayröcker in einem späten Nachklang auf „Aus der Fremde“: „In der Küche stehn wir beide / rühren in einem leeren Topf / schauen aus dem Fenster beide / haben ein Gedicht im Kopf.“
„Lebe 1 Pflanzenleben“
Der Abschied von Ernst Jandl, den sie 1954 kennengelernt hatte, war das große Memento mori im Leben der Friederike Mayröcker. Der Stachel des Todes ist in ihrem Werk gegenwärtig wie in kaum einem anderen. Als „Bastard“ hat sie den Tod beschimpft, oder ihn als „Tyrannchen“ kleinzukriegen versucht, und in allen diese Exerzitien wuchert die Lebenskraft einer Sprache, in der Trauma und Traum gleichermaßen geborgen sind.
Wieder und wieder hat Friederike Mayröcker über die Idyllen ihrer Kindheit geschrieben, über die Enklaven der Unschuld vor der großen Schuld. Wie mögen sich die Sommer im niederösterreichischen Deinzendorf in den späten Zwanzigerjahren angefühlt haben? Die Gesten und Berührungen der Mutter hat die Dichterin durch ihre Literatur getragen und eine ganze, bis ins kleinste Detail leuchtende Botanik.
„Lebe 1 Pflanzenleben“, heißt es einmal, und die Analogien zwischen der Biografie, dem Schreiben und der Natur sind so deutlich, dass man fast glauben möchte, die Mayröcker sei selbst so etwas wie ein poetisches Kraut gewesen. Immer da, immer sprießend, oder „sprieszend“, wie sie dieses Wort bis zuletzt geschrieben hat. Auf ihrer Schreibmaschine vom Typ Hermes Baby gab es kein ß.
„Ein konfuses Buch“
Dass die Mayröcker gerade deshalb mitunter übersehen wurde, weil sie auf so gelassene Art präsent war, zählt zu den Eigentümlichkeiten ihrer Karriere. Den Büchner-Preis hat sie sehr spät bekommen, erst im Alter von 77 Jahren. Da lag das Debüt auch schon 45 Jahre zurück. 1956 ist es im kleinen Bergland-Verlag erschienen, und es trug schon einen typischen Mayröcker-Titel: „Larifari“. „Sinnloses Geschwätz“ bedeutet dieses Wort, und der Untertitel legte noch eins drauf: „Ein konfuses Buch“.
Werk um Werk hat die österreichische Dichterin seither geschrieben, aber das „Konfuse“ ihrer Arbeit war nur eine Konfusion der Gattungen. In Wahrheit aber war das Schreiben der Friederike Mayröcker höchste Konzentration. Sie hatte „Ideen auf der Höhe der Sprache“, wie es beim experimentellen Kollegen Reinhard Priessnitz einmal heißt, und in diesen Ideen wurden Schauen, Empfinden und Denken eins. Dass der mayröckersche Kosmos keine große geografische Ausdehnung hatte, hat ihm nichts von seiner Wirkung genommen.
Geschrieben hat Friederike Mayröcker aus dem Fundus ihrer Erinnerung und Wahrnehmung, aber ihr Werk ist auch ein Amalgam aus Lektüren. Francis Ponge und Friedrich Hölderlin waren Kronzeugen für zwei ihrer späten Werke, der Ton von Jacques Derridas „Glas“ war lange da, dazu gibt es noch andere „Quellchen“ wie Jean Genet, Paul Éluard, Roland Barthes, Milorad Pavić und Giorgio Agamben.
Synästhetische Poesie
Friederike Mayröcker hat mit Sätzen im Ohr geschrieben, mit Zitaten und Stimmungen, die die eigene Poesie vorangetrieben, die sich im eigenen Text verschleift haben, wieder und wieder. Wenn sie über ihren Blättern saß, dann lief im Nebenzimmer Musik in voller Lautstärke. Maria Callas oder John Dowland, endlos.
Die Poesie Friederike Mayröckers ist synästhetisch, es ist ein Zugleich der Töne, Bilder und Dinge, eine dezidiert unhierarchische Form der künstlerischen Arbeit, in der das Grenzenlose poetologisches Programm ist. „Das EGALE Zirpen der Weltfülle“ ist bei Mayröcker ein unerschöpfliches Reservoir der Freude und des Schmerzes. Es war immer schwer zu sagen, welche Form ihre Bücher eigentlich haben. War es Prosa, war es Dichtung, waren es tagebuchartige Aufzeichnungen?
Die Bücher sind ineinander übergegangen, oft gab es eine strukturelle Idee, die aber nicht zwingend andere Texte ergeben hat. Selbstzitate wurden von Buch zu Buch weitergegeben, und der jeweilige Umschlag war, egal, welcher Titel auf ihm stand, vielleicht nur eine Membran, durch die alles diffundierte, was die Mayröcker auch davor schon ausgemacht hat. Es ist eine Literatur des Begehrens, wie es etwa in „brütt oder Die seufzenden Gärten“ erwacht, wie es zwischen Jauchzen und „Antwortlosigkeit“ changiert, zwischen schönstem Furor und Verzweiflung.
Empfänger unbekannt
Die poetische Welt dieser Weltschriftstellerin kannte keine Grenzen, sie konnte aus den morgens noch im Bett hingekritzelten Zeichnungen entstehen, aus Musik oder aus dem Blick vom Dachfenster auf die Stadt. Oft hat Friederike Mayröcker hier ihre Expeditionen begonnen, alles, was zu sehen war, in sich aufsaugend, bisweilen ist es der Voyeurismus ihres „euphorischen Auges“:
„Die Vielfalt im Fenster vis-à-vis hält mich in Atem (Arzt und Alzheimer) : da wechseln Gegenstände wie Bühnen Kulissen, corso, es ist sehr erbaulich : heute gelbe Gieszkanne neben Azaleenbusch und gelber Fleck einer auftauchenden Person, ein dämmriges Interieur, Umarmung.“ So steht es in „Paloma“, einem der Aufschreibebücher, dessen Texte eine Tarnung haben. Es sind Briefe an einen unbekannten Empfänger.
Friederike Mayröcker hat aus ihrer Welt heraus geschrieben, aus ihrem Gehäuse, das berühmt dafür war, dass es aus einer Wucherung von beschriebenen Zetteln, Büchern und sonstigem Kram bestand. Ihre Wohnung in der Wiener Zentagasse war ein poetischer Ort, das Inbild einer Verschriftlichung der eigenen Existenz. „Lebe in 1 Sau Trog“, heißt es einmal über die „herrschenden Zustände“, in denen Wäschekörbe voller Notizen beschriftet waren mit „WILDES MATERIAL“.
„1 Blume auf das frische Grab“
Friederike Mayröcker war eine Bezähmerin des wilden Materials, das sich auch in ihr selbst türmte. Am Rande der Wiener Avantgarde produzierte die Mayröcker Texte, deren Qualität zum Maßstab wurde. „Gut wie Mayröcker“, raunte man sich im literarischen Untergrund Wiens zu, wenn etwas besonders gelungen war. Viel weniger glamourös, als es die Mythen rund um die Wiener Gruppe glauben machen wollen, waren die Zeiten einer nachholenden österreichischen Literatur, die das Progressive in den beiden ersten Jahrzehnten nach dem Krieg mühsam behaupten musste.
Die Einflüsse kamen aus Frankreich und von den amerikanischen Beat-Literaten. Gemeinsam mit Ernst Jandl war die Mayröcker einer der Scouts der österreichischen Szene und immer mit dabei, wenn es Neues zu entdecken galt. Der Literatur, der eigenen und der Poesie anderer, hat Friederike Mayröcker Leben eingehaucht. Es war ein langer und ruhiger Atem. Er wird bleiben, und es gilt: „Leg mir nur 1 Blume auf das frische Grab nicht / Kranz nicht Tannenhändchen Palmenhaupt.“
Am 4. Juni 2021 ist Friederike Mayröcker im Alter von 96 Jahren in Wien gestorben. Gerade eben war sie noch für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert.