Wie aus St. Pauli wieder St. Pauli werden kann
Jüngst feierte die Hamburger Kiezkneipe „Zur Ritze“ ihr 50-jähriges Bestehen. Unser Autor ist dort groß geworden. Hier zieht er eine Bilanz – und sagt, was sich in seinem Viertel ändern muss, damit es die Zukunft hat, die es verdient.
Albert und ich stehen am Rande des roten Teppichs und beobachten das Treiben vor der „Ritze“. Die berühmteste Kneipe auf St. Pauli feiert 50-jähriges Jubiläum, rund 1000 Gäste drängen sich durch den schmalen Tunnel, der zum Eingang führt. „Wenn das Hanne sehen könnte“, sagt Albert. Der 80-Jährige hat gemeinsam mit Hanne Kleine, dem Gründer der „Ritze“, in den 80er-Jahren den Boxkeller im Untergeschoss der Kneipe aufgebaut.
Hanne, der eigentlich Hans-Joachim hieß, boxte einst in der DDR-Nationalmannschaft und avancierte später zu einem der wichtigsten Protagonisten auf St. Pauli. Wenn ich heute mit den „Alten“ über ihn spreche, erzählen sie von einem, der dem Rotlicht Vater und Mutter war. Ein gemütlich wirkender Mann, der zu später Stunde gerne die Quetschkommode rausholte und mit den Kiez- und Rotlichtgrößen gemeinsam alte Lieder sang. Doch ein Ort für Chorknaben, das war die Kneipe nie. Eigentlich sollte sie „Zur Spalte“ heißen, aber den Namen lehnten die Behörden ab, er war ihnen zu schlüpfrig. Zuvor hatte das Gebäude das Bordell „Palais D’Amour“ beheimatet – und das, was damals als Pissoir gedient hatte, wuchs bald zum Mythos heran.
Der wird gefeiert, mit Hannes Nachfolger Carsten Marek. Der ehemalige Kickbox-Weltmeister hat nach Hannes Tod 2011 den Laden übernommen und gehörte da längst zum harten Kern derjenigen, die auf St. Pauli wirklich etwas bewegen; er war schon aktiv, als ich noch als kleiner Butsche durchs Viertel gestreift bin und um die Ecke in den Tunnel zum Eingang der Kneipe geluschert habe, auf die berühmtesten Beine St. Paulis. Bis heute spreizen sich die von Erwin Ross gemalten Gliedmaßen, die in roten High Heels stecken, rechts und links von der Eingangstür ab.
Am Ehrentag seiner Kneipe hat Carsten Marek noch das „Moondoo“ direkt nebenan geöffnet – der Nachtclub war früher das „Top Ten“, neben der „Ritze“ Treffpunkt der Kiez-Größen. Bis 1994 betrieb es Karl-Heinz Schwensen. Er kommt Albert und mir gerade von der Bühne entgegen, auf der Carsten Marek sich von den anwesenden Pressefotografen mit allen Gästen ablichten lässt. Stilsicher wie immer – selbst, als „Kalle“ 1996 mit zwei Kugeln im Oberkörper auf einer Trage zum Krankenwagen getragen wurde, zeigte er den Fotografen das Victory-Zeichen – ist er bis heute präsent auf St. Pauli und begrüßt uns mit seinem berühmten festen Händedruck.
Auch er war einer der Männer, die ich in meiner Kindheit beim Ein- und Ausgehen in die „Ritze“ beobachtete. Die wurde später um einen Anbau erweitert, den ein roter Vorhang vom Rest der Kneipe trennte. Dort hatte nur Zutritt, wer zum inneren Zirkel gehörte. Wie Chinesen-Fritz, der Zuhälter, den 1981 die Konkurrenz hinter dem Stück Stoff erschoss. Links davor führt bis heute eine gewundene Treppe in den Boxkeller. Hier trainierten Eckhard Dagge, der erste deutsche Profi-Weltmeister nach Max Schmeling, René Weller, Dariusz Michalczewski und Axel Schulz; der hatte sich, kaum war die Mauer gefallen, aufgemacht, um „im berühmtesten Boxkeller der Welt“ Erfahrungen zu sammeln. Zur Party ist er natürlich da.
Im Untergeschoss passierte auch Trauriges. Da war beispielsweise Stefan Hentschel – ein Lude, der sich selbst einmal als „göttlichen Zuhälter“ bezeichnete. 2006 erhängte er sich kurz vor Weihnachten am Haken seines Boxsacks. Die von mir verehrte Journalistin Ariane Barth war nicht nur die erste Redakteurin beim „Spiegel“, sondern traute sich als einziges Mitglied ihrer Redaktion schon in den 80er-Jahren ins Rotlicht einzutauchen. Während ihrer Recherchen lernte sie Stefan Hentschel kennen und schrieb ein Buch über ihn, an dessen Lebensgeschichte entlang sie St. Pauli erzählt. Ich erinnere vor allem einen Satz, den Stefan Hentschel geprägt hat: „Auf St. Pauli knallen die Kontraste.“
In der Gründungs- und Hochzeit der „Ritze“ war es tatsächlich so: Im Viertel gab es die Kaschemmen, in denen man in Pfützen aus schalem Bier stand und die exklusiven Läden, in denen mit goldenen Rolex-Uhren behangene Arme Champagnerflöten und Austern zum Mund führten. Aus geöffneten Autotüren glänzender Lamborghinis und Rolls Royces stiegen in Pelz gehüllte Schönheiten über Rinnsteine hinweg in die Wempe-Boutique. Alles hatte eine Funktion: Kneipen wie der „Elbschlosskeller“ oder der „Goldene Handschuh“ schenkten vielen verlorenen Seelen und verkrachten Existenzen eine Heimat. Rund um die Uhr geöffnet, wie fast alle Bars und Clubs jener Zeit, war man dort nicht allein (und ist es noch immer nicht). Was heutzutage queer genannt wird, traf sich im schwul-frivolen „Crazy Horst“ von Horst Schleich.
Seit den 70er-Jahren ein Freund meiner Familie, war er stets ein Quell großartiger und bewegender Geschichten. Er war auch ein guter Freund von St. Paulis bekanntester Prostituierten Domenica, Hanne Kleines Ex-Frau. Horst Schleich liebte es, wenn sie nackt unter einem Pelzmantel in seinen Laden kam, um Champagner zu trinken. Das waren die Zeiten, in denen Gaunermillieu, Rot- und Rampenlicht auf St. Pauli Hand in Hand gingen: Wenn Wilfried Schulz, in den 70er-Jahren einer der Paten des Viertels, zu Galaabenden ins Hamburger CCH einlud. Da kamen Milieu und Showbusiness zusammen und ließen es im Smoking krachen.
Schulz war es, der St. Pauli wieder als Ganzes dachte. Gastronomie und Glücksspiel, das Wettgeschäft und auch die Prostitution wurden nach Absprache betrieben, bei Konflikten tagte ein internes Gericht – wer die Regeln verletzte, der erhielt St. Pauli-Verbot. Einige der Wenigen, die noch aus dieser Zeit erzählen können, ist Rosi Sheridan McGinnity, die in den 60er-Jahren mit den Beatles in einer WG lebte und die später den legendären Musik-Club „Rosi’s Bar“ eröffnete. Rosi neigt nicht zur retrospektiven Verklärung, doch sie schätzt bis heute den gewissen Zusammenhalt im Viertel.
Im Spagat zwischen Elend und Luxus gebar das alte St. Pauli alle erdenklichen Lebensformen. Und so war ich schon als Kind mit fast allen menschlichen Spielarten vertraut, aß sonntags mit meiner Oma oder meiner Tante, die ebenfalls einen Laden im Viertel betrieb. Im „Café Möller“ saß ich neben Homosexuellen und Transvestiten, Gaunern und Prostituierten und genoss meine Sahnetorte. Dabei konnte es durchaus passieren, dass meine Tante ein Zeichen erhielt. Sie war stets eine der Ersten, die einen Blick auf die Beute werfen durfte, die ein paar „Bekannte“ regelmäßig aus den Elbvororten brachten – darunter Pelze, Schmuck und feine Accessoires, die in der Kneipenküche präsentiert wurden.
Albert und ich sind mittlerweile durch die Beine ins Innere der „Ritze“ geschlüpft, wir kommen kaum voran, so voll ist es. Kurz begrüßt uns der Geschäftsführer: Ken Hoevermann war einmal einer der erfolgreichsten Judokas Deutschlands und ist heute der erste Mann an Carsten Mareks Seite. Die verrauchten Wände sind dicht behängt mit Bildern, Zeitungsausschnitten und Artefakten, darunter Carsten Mareks Weltmeistergürtel, der in einem Glaskasten liegt.
Draußen blitzen die Kameras um die Wette, posiert Carsten Marek mit Axel Schulz und Ex-HSV-Boss Jürgen Hunke, Auswanderer Konny Reiman, Eddy Kante, dem ehemaligen Bodyguard von Udo Lindenberg oder Uli Salm, Chef einer weiteren bekannten Kneipe, dem „Zwick“. Ich winke Milliarden-Mike zu, dessen Lebensgeschichte gerade verfilmt wurde, er spricht in ein Mikrofon. „Ordentlich was los hier“, sagt Albert knapp.
Ich genieße den Auflauf der vielen Menschen, fühle einmal mehr die Verbundenheit mit St. Pauli. Ich denke an meine Zeit in Jugendgangs zurück. Wir waren in den 80er-Jahren unterwegs, um uns herum wuchs die Gier, das Koks zog ein und veränderte die Menschen, der Ton wurde rauer, das Geschäft zunehmend professionalisiert, die Herzen wurden leerer, die Geldbeutel einer neuen Riege von Geschäftemachern voller. Nach dem Schauspielstudium betrieb ich hier ein Nachtcafé, hätte bleiben, hätte Wurzeln schlagen können. Mich lockte damals allerdings das Berlin nach dem Mauerfall und ich zog über Nacht mit nur einer Tasche von der Elbe an die Spree. Berlin war so anders als meine Heimat und doch so vertraut, hatte es doch auch diese kreativ-explosive Energie. Aber wer, wie ich, auf St. Pauli geboren ist, der zieht ein Leben lang eine unsichtbare Nabelschnur hinter sich her.
Als ich 2013 zurückkehrte, war das Viertel ein anderes – doch noch immer war sie da, diese besondere Energie. Ich rief die alten Gangs zusammen, organisierte mit dem Projekt „Gangs United“ drei Jahre lang einen Friedensmarsch über die Reeperbahn. Die Jugendlichen der Achtziger trugen ihre alten und neuen Geschichten zurück auf den Kiez, feierten Versöhnung. Die Presse berichtete, das neu eingezogene Bildungsbürgertum war irritiert. So nannte mich einmal ein Journalist vor Kurzem in der „Zeit“ „einen Straßenjungen, der sich viel prügelte.“
Er begriff nicht, so wie einige der Hinzugezogenen es bis heute nicht verstehen, dass wir keine Straßenjungs waren, sondern eine Subkultur. Wir, die wir hier aufgewachsen waren, haben das alte St. Pauli mit seinen Kontrasten erlebt. Das Bildungsbürgertum, das heute hier wohnt, kauft gleich ganze Altbauwohnungen in Bestlage, längst ist St. Pauli eines der teuersten Viertel der Stadt. Wenn von der Vergangenheit die Rede ist, spricht diese Klientel von einem Getto, aber das war St. Pauli nie. Es war wild mit eigener Ordnung, fortschrittlich und es herrschte Akzeptanz gegenüber allen Lebensentwürfen.
Während Jörg Immendorf am Albers-Platz das „La Paloma“ eröffnete, übergab der marxistische Zuhälter Wolli Köhler seinen Puff an die Mitarbeiterinnen, die den Laden innerhalb von drei Monaten herunterwirtschafteten. „Gangs United“ war mein Auftakt im Ringen mit der Mittelmäßigkeit, die auf St. Pauli Einzug hält. Als die Programme und Angebote von Theatern und Kneipen zunehmend „gesellschaftsfähiger“ wurden, Corny Littmann oder Olivia Jones anfingen, die Massen in das Viertel zu locken, begann eine gewisse Verflachung.
Nicht nur das Bildungsbürgertum, das mit seinem engen Denken einen Großteil der Geschichte St. Paulis entweder ausklammert oder abwertet, ist eingezogen, sondern auch der Ballermann-Tourismus mit seinen Wodka-Bomben-Buden, Shisha-Bars und Billig-Kiosken. Viele von Inhabern geführte Läden mussten weichen, das Viertel wandelt sich; in die ehemalige Wempe-Boutique ist heute einer von vielen Döner-Grills gezogen. Auch die Presse, die bis weit in die 2000er-Jahre zu gerne mit dem Rotlicht aufmachte, wurde merklich stiller.
Dann sind immer mehr selbst ernannte politische und gesellschaftliche Gestalter aufgetaucht, die mit Initiativen und Projekten und voller Verachtung gegenüber den vergangenen Strukturen ein sauberes Bild von St. Pauli zeichnen wollen. Sie jonglieren mit Begriffen wie Toleranz, Weltoffenheit und Diversität – das alles hat es allerdings schon gegeben, lange bevor diese Gestalten diese Dinge buchstabieren konnten. Mittlerweile droht die DNA des Viertels zur Karikatur zu verkommen, wenn pinke Pappaufsteller oder Fremdenführer aus der Provinz den rund 40.000 Touristen, die am Wochenende durch die Straßen ziehen, St. Pauli „näherbringen“ wollen.
NDR und Co. schwelgen entweder in Nostalgie oder in Hysterie, wenn sie dem Thema „Lärmbelästigung“ in der Paul-Roosen-Straße eine ganze Reportage widmen. Dort muss sich Fabio Haebel ebenfalls mit Pseudo-Gestaltern auseinandersetzen: Der Koch hat dem Viertel mit seinem Restaurant „Haebel“ den ersten Michelin-Stern geschenkt – und wird von selbst ernannten St. Paulianern angegangen, weil gehobene Gastronomie angeblich nicht hierher gehöre, Ausdruck einer Dekadenz sei, die es hier nie gegeben habe.
Das ist nicht nur falsch, sondern lächerlich. Ich liebe das „Haebel“, das wie so viele andere Lokale hier, kulinarische Hochkultur ins Viertel bringt. Und das „Cuneo“ liebe ich auch, seit 1905 wird hier italienisch gekocht, genau wie den „Chug Club“ von Betty Kupsa, in dem die besten Cocktails Hamburgs gereicht werden – aber bestimmt keine Wodka-Bomben. Dann sind da die Nudelsuppen im 1977 eröffneten „Man Wah“, dem chinesischen Lokal, in dem ich schon als Jugendlicher gegessen habe, und die Ente zu Rotkohl und Klößen im Restaurant „Freudenhaus“.
Es sind die Kontraste, von denen Stefan Hentschel gesprochen hat, die St. Pauli ausmachen. Das gilt auch heute noch und deshalb ist das Jubiläum der „Ritze“ keine reine Retrospektive. Hanne Kleine hat aus einem Pissoir einen Ort von Weltruf geschaffen. Und eine Blaupause für alle, die dieses Viertel fühlen mit all seinen Möglichkeiten. Es heißt, Tradition ist die Weitergabe des Feuers. Und es gibt sie auch heute noch, die Menschen, die ihre Feuer hier entzünden. Man muss sich nur die Mühe machen, sie zwischen den Nebelkerzenwerfern zu suchen.
Deshalb ist es gut, dass die „Ritze“ ihren Geburtstag feiert. Und als Albert aufbricht, mache ich mich auf die Suche nach der Champagner-Bar. Doch im dichten Gedränge finde ich sie nicht. Macht nichts – ich bin schließlich auf St. Pauli, ziehe einfach weiter ins „Haebel“ und stoße dort mit einem Glas Champagner noch einmal auf die „Ritze“ an. Happy Birthday.
Unser Autor: Michel Ruge ist Schriftsteller (u.a. „Bordsteinkönig – meine wilde Jugend auf St. Pauli“, „Große Freiheit Mitte – mein wilder Trip durchs Berliner Nachtleben“), Publizist und Kampfsportler. Er wurde 1969 auf St. Pauli geboren und ist nach Reise- und Lebensjahren in Berlin, Los Angeles und New York 2013 zurück nach Hamburg gekehrt. Seitdem engagiert er sich für den Erhalt des kulturellen Erbes von St. Pauli, unter anderem mit dem Salon Privé Sankt Pauli, den er mit seiner Frau Annika 2023 ins Leben gerufen hat. Aktuell bündelt er gestalterische Kräfte in einer Allianz für St. Pauli, unter anderem mit Sterne-Koch Fabio Haebel und der Unternehmerin und Club-Betreiberin Betty Kupsa. Michel Ruge lebt mit seiner Familie im Herzen von St. Pauli.