Wo Picasso und Chagall zum Geschnetzelten von der Wand grüßen
Ein Ort, an dem sich Malerei und Kulinarik begegnen wie nirgends sonst auf der Welt: Vor 100 Jahren übernahm Hulda Zumsteg die „Kronenhalle“ in Zürich. Die Gäste reichen von Richard Strauss über Thomas Mann bis zu Tina Turner.
Die große Hulda sieht dich. Ihr Mund formt ein Lächeln, das ihre Augen aufnehmen, ihr graues Haar ist zum Dutt frisiert, ihr schwarzes Kleid verleiht ihr die Aura der großen Dame, die sie war. Und in der Scheibe vor ihr spiegelt sich ein Kronleuchter, aber das stört niemanden. Eher trägt es dazu bei, dass das Porträt des Schweizer Malers Willy Guggenheim alias Varlin der ideelle Mittelpunkt dieses Ortes ist, der Punkt, an dem die Gründerin, die Kunst und das Interieur der Zürcher „Kronenhalle“ zu einem ganz eigenen Miteinander verschmelzen.
Wer dort hingeht, gönnt sich damit eine Visite in einer der raren kulinarischen Institutionen, die auch im 21. Jahrhundert den allermeisten Trends trotzen, aber trotzdem funktionieren, in denen eine Stadt bei sich ist. Das „Fischereihafen-Restaurant“ in Hamburg fällt einem da im deutschsprachigen Raum noch ein, oder das „Spatenhaus“ in München. In Zürich übernahm Hulda Zumsteg vor 100 Jahren die Gaststätte, und obwohl niemand weiß, wie die Welt im Jahr 2124 aussehen wird, ist es gut möglich, dass man an dieser Stelle auch dann noch Kalbsgeschnetzeltes, Filetgulasch Stroganov und Rösti bestellen und dabei die Werke berühmter Künstler an den Wänden bestaunen kann.
Auch 40 Jahre nach dem Tod der Gründerin und knapp 20 Jahre nach dem Ableben ihres Sohnes Gustav passiert hier nur, was deren Geist entspricht. Die Rämistraße, in der das Restaurant beheimatet ist, wirkt nicht spektakulär. Rechts neben dem Lokal befindet sich ein Händler antiker Uhren, davor rattert die Tram in Richtung Nordufer des Zürichsees. Doch wer zum ersten Mal durch die Eingangstür geht, den kann das Ambiente einschüchtern. Besonders gefragt ist der Raum aus dunklem Holz, den sie hier die Brasserie nennen, und dort sieht Hulda zu.
Aber das allein erklärt nicht die Faszination. Es sind die Kellner in den weißen Jacken, es sind die Gemälde von Picasso, Chagall, Paul Klee und vielen anderen, es ist das Wissen darum, dass hier Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt Fehden und Versöhnungen aufführten, dass sich der Lübecker Patrizier Thomas Mann in diesen Räumen wohlfühlte, dass Bertolt Brecht in ihnen seine Prahlereien anbrachte, dass es sich die Komponisten Richard Strauss und Igor Strawinsky schmecken ließen, und dass Tina Turner sich über ein bisschen Privatsphäre freute.
Egal, wie berühmt einer ist, die Angestellten und Gäste haben ihn in Ruhe zu lassen – und niemand wird ignorant genug sein, um nicht ganz einfach zu spüren, dass es hier um mehr als nur ums Essen geht. Doch schon liegt da vor dem Besucher die Speisekarte auf dem schweren Tischtuch, schon fragt die Frau in schwarzer Uniform mit weißer Schürze ins Stimmengewirr eines Dienstagmittags hinein, was es sein dürfe.
Zunächst ein wenig Übersetzungshilfe bitte. Welcher Deutsche soll auf Anhieb wissen, dass es sich bei einem „Mistkratzerli“ um ein Stubenküken handelt? Unmissverständlich fährt die Bedienung fort, beim geschnetzelten Kalbsfilet mit Rösti handele es sich um den absoluten Klassiker, auf der saisonalen Karte dagegen empfiehlt die Bedienung – sie hat ihren Beruf hier erlernt – als Vorspeise die Avocado mit Vinaigrette. Genauso wird’s dann gemacht. Man ist schließlich nicht da, um Sashimi zu essen, obwohl auch das in der Karte aufgeführt ist.
Nun ist Zeit dafür, tiefer in die Geschichte einzutauchen. Als Hulda mit ihrem Mann Gottlieb Zumsteg das Lokal übernommen hatte, machten die beiden es durch die hochsolide Küche bald zum Treffpunkt der Zürcher Gesellschaft. Das war auch in der Weltwirtschaftskrise ab 1929 so, und sogar während des folgenden Zweiten Weltkriegs blieb das Restaurant geöffnet. Hulda Zumsteg arbeitete immer, das Restaurant war ihr Leben. Ihr Sohn Gustav wurde mit 16 Jahren Lehrling beim Zürcher Seidenunternehmen Abraham & Co., stieg schnell auf, dann zog es ihn nach Paris.
Dort angekommen, empfand er Henri Matisse rasch als Vaterfigur. Marc Chagall nannte ihn seinen Jungen, der Modeschöpfer Cristóbal Balenciaga brachte ihm die Kunst noch näher, was wieder den Kontakt mit Designern förderte. Gustav Zumsteg entwarf Stoffe für Christian Dior, Hubert de Givenchy, Coco Chanel und Yves Saint Laurent – in ihm erkannte er jemanden, der ihm wirklich nahestand. Diese Bekanntschaften färbten auch auf seine Mutter ab. Sie liebte Pariser Couture am Körper, vermutlich auch als Belohnung für die Plackerei in ihrem Lokal.
Später sollte Gustav Zumsteg sagen: „Ich glaube, dass ich einer der bedeutendsten Kunsthändler hätte werden können, denn ich besaß zu einem bestimmten Zeitpunkt das uneingeschränkte Vertrauen großer Künstler. Aber ich vermied es, mich ganz dem Kunsthandel zu widmen, weil ich erkannte, dass ich dafür zu schüchtern war.“ Also kaufte er Kunst und füllte damit seine Wohnungen. Als dort kein Platz mehr war, gelangten Gemälde in die „Kronenhalle“.
Die Firma Abraham, die er übernommen hatte, musste er allerdings mit Millionen bezuschussen, bis sie 2002 am Ende war. Was zuletzt im Restaurant hing, sollte dortbleiben. So sah es das Testament vor, mit dem Zumsteg das Restaurant und die Kunstwerke der Hulda-und-Gustav-Zumsteg-Stiftung vermachte. So kann man bis heute in dem Lokal den Größen der klassischen Moderne ganz nahe sein; manche Besucher kommen vor allem aus diesem Grund.
Der Gast aus Deutschland beschäftigt sich nun mit der Avocado. Sie ist durch die Vinaigrette säuerlich abgeschmeckt, aber am meisten faszinieren ihn die Zwiebel- und Tomatenwürfel. Sie sind von einer Feinheit, wie es sie sonst nicht zu erleben gibt, und dabei präzise geschnitten. Kein Koch wird dafür je Lob ernten – umso mehr zeugt es von Klasse, solche Details im Blick zu haben.
Spricht man Dominique Nicolas Godat darauf an, den 65-jährigen Geschäftsführer im diskreten blauen Anzug, so wird er ernst blicken und dann antworten, wie wichtig es sei, dass die Gäste von Gerichten ausgehen könnten, die immer gleich schmecken. Das Lokal sei nicht nur in Zürich bekannt, sondern rund um den Globus – ohne ein konstantes Level entfalle ein wichtiger Grund für den Besuch.
Also auf in die Küche! Chefkoch Peter Schärer begrüßt sofort per Handschlag. Der 61-Jährige steht vorn, da, wo die Kellner das fertige Essen abholen – ein Mannschaftskapitän, der jeden Spielzug gesehen hat, ein Typ, der seinen Köchen vermittelt: Ganz egal, wie viele Gäste kommen, am Ende werden wir mit geradem Rücken auseinandergehen, weil jeder, der bis zu 500 Teller in Ordnung war. Heute hat er keine Zeit, also übernimmt sein Souschef Philippe Schoch die Führung. Der 45-Jährige erlernte einst sein Handwerk hier. Nach Stationen wie dem „Suvretta House“ in Sankt Moritz kehrte er vor knapp 20 Jahren zurück.
Fancy geht es nicht zu. Aber wer mit seiner Küche Erfolg haben will, interpretiert ohnehin besser das Grundsätzliche brillant, als viel zu experimentieren. In der „Kronenhalle“ bedeutet das: Bis auf das Brot machen sie alles selbst, von den Fonds bis zu den Teigen für die Desserts. Und wenn jemand den Klassiker aller Klassiker bestellt, bekommt er 170 Gramm Kalbsfilet und eine Rösti-Portion, die dafür reichen, dass ihm die Kellner im Gastraum zwei volle Teller Geschnetzeltes vorlegen. Er sei kein Typ für allzu Filigranes, sagt Schoch, aber das sei nicht nötig. Kochkunst besteht für diese Mannschaft in erster Linie aus einer makellosen Logistik.
Doch gibt es beispielsweise das Geschnetzelte in einer Planted-Version. Ohne jüngeres Publikum würde auch diese Institution irgendwann sterben. Geschäftsführer Godat weiß darum, er erzählt deshalb gern, dass heute eine Frau mit ihrem Mann zum Mittagessen gekommen sei, deren Wunsch es gewesen sei, hier ihren 30. Geburtstag zu feiern.
Es stimmt ja – wer sich im Restaurant umsieht, der erblickt viele Senioren, aber eben auch jüngere Menschen. Längst dominieren unter den Gästen auch nicht mehr die feinen Kleider und Anzüge. Zürich erlebt eine Dress-down-Welle, und so wimmelt es vor Sneakern, Polohemden und Jeans.
Jüngst war die „Kronenhalle“ in die Kritik geraten: Nachdem immer mehr Gäste in Flip-Flops und Shorts aufgetaucht waren, hatte das Management sich erlaubt, auf den Dresscode des Lokals hinzuweisen, der das untersagt. Mancher Besucher legte dies als Bevormundung aus. Also schwächte man die Formulierungen ab, aber im Kern blieben sie bestehen. Das Personal gibt jeden Tag sein Bestes, um den Kunstwerken Würde zu verleihen, da darf es auch verlangen, dass die Gäste nicht im Schlunzi-Look erscheinen.
Und wie unglaublich viel Liebe zum Detail in der „Kronenhalle“ steckt, zeigt ein Besuch in der Bar, die seit dem Jahr 1965 zum Haus gehört. Ganz rechts am Tresen finden sich ein paar schwarze Flecken, sie stammen von glühendem Tabak, der dort versehentlich landete. Warum die Punkte nicht längst verschwunden sind? Der Barchef Christian Heiss blickt bei seiner Antwort leicht verträumt. An diesem Platz habe Gustav Zumsteg gern geraucht, sagt er; eine Situation, in der sein schweigsamer Ernst besonders gut zu erleben gewesen sei. Da könne man diese Überbleibsel unmöglich entfernen lassen.
Zwei Dinge legte Gustav Zumsteg vor seinem Tod fest. Erstens muss das Restaurant sich wirtschaftlich aus eigener Kraft tragen, finanzielle Hilfe von der Stiftung dürfe es nicht annehmen. Das hat das Team offenkundig selbst in den Covid-Jahren geschafft. Zweitens verfügte er: Die „Kronenhalle“ darf nie verkauft werden. Luxus-Ketten haben in diesem Fall also ausnahmsweise keine Chance, zum Zug zu kommen.
Ohne Zweifel war das eine grandiose Entscheidung: Das Schicksal der Institution, der man große Teile seines Lebens widmete, über das eigene Ende hinaus zu gestalten, macht diesen Ort nur noch exklusiver. Die große Hulda hätte das bestimmt gern gesehen.