Wann beruflicher Stress zur Gefahr für die Psyche wird – und wann nicht
Schlechte Arbeitsbedingungen haben großen Einfluss auf die mentale Gesundheit. Forscher haben Stressfaktoren analysiert, die das Risiko einer Depression erhöhen – und erklären, warum reiner Zeitdruck nicht das Hauptproblem ist.
Dass das Berufsleben gefährlich sein kann, lässt sich in Deutschland kaum ignorieren. Dafür sorgt schon das Arbeitsschutzgesetz. Chefs haben hierzulande die Pflicht, ihre Angestellten zu Sicherheit und Gesundheitsschutz zu unterweisen. Das gilt nicht etwa nur für Dachdecker, Chemielaborantinnen oder Gabelstaplerfahrer.
Auch Büromenschen werden regelmäßig belehrt, dass sie keine Ladekabel über den Boden spannen und bei Feueralarm die Treppen statt der Aufzüge nutzen sollen. Nahezu alle erdenklichen Szenarien, in denen man körperlich versehrt werden könnte, werden durchdekliniert – bis hin zum Kurzschluss der Kaffeemaschine. Nur die Aufklärung, welche Risiken im Job für die Psyche lauern, die fehlt.
Dabei gäbe es großen Bedarf. So hat das wissenschaftliche Institut der AOK (WIdO) jüngst den „Fehlzeiten-Report 2023“ vorgestellt. Demnach waren im vergangenen Jahr bei den AOK-versicherten Erwerbstätigen 10,3 Prozent aller Ausfälle psychisch bedingt; seit 2012 haben die Fehltage wegen psychischer Erkrankungen um 48 Prozent zugenommen. Zwar besagen diese Zahlen nichts darüber, wie viele Betroffene berufsbedingt erkrankten.
Doch bei der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) schätzt man vorsichtig, dass hierzulande rund ein Drittel der Fälle, in denen Arbeitnehmer an depressiven Symptomen leiden, durch den Job verursacht worden sein können. In einer WIdO-Umfrage gab das Gros der Teilnehmer zudem „arbeitsbezogene psychische Beschwerden“ an, vor allem Erschöpfung und Wut, aber auch Lustlosigkeit und „wie ausgebrannt sein“. Offenkundig setzt das Berufsleben der Seele zu. Doch woran liegt das, und was lässt sich dagegen tun?
Einige mögliche Antworten darauf haben vor Kurzem Birgit Greiner und Reiner Rugulies gegeben. Die Epidemiologin des irischen University College Cork und der Epidemiologe des Nationalen Forschungszentrums für Arbeitsumwelt in Kopenhagen waren Mitte Oktober zu Besuch in Berlin. Dort präsentierten sie auf dem „World Health Summit“ die Ergebnisse einer umfassenden Analyse, die im Journal „The Lancet“ erschienen ist. Ein zentraler Befund lautet: Gewisse berufliche Bedingungen sind tatsächlich mit einem erhöhten Risiko verbunden, an einer Depression zu erkranken.
Diese Stressfaktoren können zu einer Depression führen
In der Untersuchung hatte sich ein Team um Greiner und Rugulies auf sieben Meta-Analysen aus den Jahren 2017 bis 2021 konzentriert, in die Dutzende Studien zu beruflichem Stress und psychischen Erkrankungen eingeflossen waren – mit insgesamt Hunderttausenden Erwerbstätigen. Nahezu alle stammten aus einkommensstarken Ländern und hatten zu Studienbeginn keine Krankheitssymptome gezeigt, im Laufe der Zeit aber zum Teil eine klinisch diagnostizierte psychische Störung entwickelt.
Aus den Meta-Analysen extrahierte das Team dann 17 ungünstige Arbeitsbedingungen und errechnete deren statistischen Zusammenhang mit dem Auftreten psychischer Störungen. Tatsächlich gingen 13 Stressfaktoren mit einem erhöhten Risiko einher, eine Depression zu entwickeln; diese Diagnose war in den Studien mit Abstand am häufigsten untersucht worden.
Den stärksten Einfluss hat demnach Mobbing. Weitere Zusammenhänge fanden die Forscher für mangelnde Gerechtigkeit, Jobunsicherheit, große emotionale Belastungen, fehlende Unterstützung, zu wenig Anerkennung und „Job Strain“. Damit ist gemeint, dass Beschäftigte hohe Anforderungen erfüllen müssen, zugleich aber kaum Kontrolle und Handlungsspielraum haben. Mit Ausnahme des Mobbings fallen die Effekte statistisch gesehen moderat bis schwach aus. Dennoch halten Greiner und Rugulies sie für bedeutsam.
Dieter Zapf, Arbeitspsychologe an der Goethe-Universität Frankfurt/Main, sieht das genauso. Den Mobbing-Opfern gehe es zwar meist sehr schlecht, doch geschätzt betreffe das nur drei bis zehn Prozent der Berufstätigen. „Die große Mehrheit erlebt im Job deutlich weniger gravierende Probleme wie Zeitdruck oder ein zu hohes Arbeitspensum, die aber ebenfalls – wenn auch weniger – negative Auswirkungen auf die Gesundheit haben“, sagt er.
Doch warum erhöhen gewisse Arbeitsbedingungen überhaupt das Risiko, depressiv werden? Schließlich beeinträchtigen nicht alle Stressfaktoren die Psyche, wie Zapf am Beispiel Arbeitsbelastung schildert. „Es gibt Berufstätige, die immer wieder übermäßig viel zu tun haben und Fristen einhalten müssen“, sagt er. Das sei zwar schlecht, könne aber positive Folgen haben – wenn man den Auftrag erfolgreich abschließe und stolz auf die eigene Leistung sei.
Kritisch werde es dagegen immer dann, wenn beruflicher Stress den Selbstwert untergrabe. Zum Beispiel, weil eine Tätigkeit sinnlos erscheint und die eigene Stellung innerhalb der sozialen Gruppe herabsetzt. „Wenn ich zwei Wochen lang einen Zwischenbericht schreiben muss, obwohl klar ist, dass niemand ihn lesen wird, fühle ich mich wie der letzte Loser“, erklärt Zapf. „Das wirkt sich viel negativer auf meine Psyche aus als etwa reiner Zeitdruck.“
Ähnlich bedrohlich kann es werden, wenn die Jobbedingungen die persönlichen Ziele und Werte unterlaufen; beispielsweise, weil Beschäftigte von Aufgaben geradezu erschlagen werden und den emotionalen Anforderungen ihres Berufs nicht mehr gerecht werden können – man denke an Pflegepersonal oder Lehrer. Zeitdruck und Überlastung machen es ihnen oft unmöglich, ihre hohen Ansprüche an sich selbst zu erfüllen.
Das führt Zapf zufolge erst zu Müdigkeit und Erschöpfung, dann zu Entfremdung und Zynismus. „Man distanziert sich innerlich von seinem Tun, als Schutzschild“, erklärt er. „Aber wenn man das zu lange macht, bekommt man ein Problem mit sich selbst.“
Gesundheitsberufe und Sozialwesen besonders betroffen
Besonders gefährdet sind laut Zapf jene Branchen, in denen Menschen mit anderen Menschen arbeiten. Denn diese Arbeit lasse sich nur beschleunigen, indem man sich aufs Nötigste beschränke. Das gehe zulasten der Qualität, der Sinnhaftigkeit des eigenen Tuns – und damit der seelischen Gesundheit. Tatsächlich fielen laut „Fehlzeiten-Report“ im Jahr 2022 wegen psychischer Erkrankungen vor allem Beschäftigte aus dem Gesundheits- und Sozialwesen, der öffentlichen Verwaltung, Banken, (Sozial-)Versicherungen und dem Bereich Erziehung und Unterricht aus.
Zwei weitere gefährdete Branchen nennt Hermann Burr von der BAuA-Gruppe „Psychische Belastung und Mentale Gesundheit“. Einerseits Berufe mit materieller Bearbeitung, weil dort ein hohes Tempo gefordert sei; andererseits Berufe der Informationsverarbeitung, weil diese typischerweise große Arbeitsmengen bewältigen müssten. Allerdings, sagt Burr: „Viele andere Risikofaktoren für psychische Erkrankungen, wie fehlende Unterstützung oder schlechte Führungsqualität, sind überall ein Problem – nicht nur in bestimmten Branchen.“
Bleibt die Frage: Was lässt sich dagegen tun? Schon jetzt bieten Unternehmen Workshops zu Themen wie Zeitmanagement oder Achtsamkeit an, bei denen Angestellte lernen können, mit Stress besser klarzukommen. Genau das sehen Birgit Greiner und Reiner Rugulies jedoch kritisch. „In unserer Gesellschaft herrscht die Auffassung, dass jeder Einzelne für seine Gesundheit selbst verantwortlich ist“, sagt die Epidemiologin. Doch um psychischen Erkrankungen im Job vorzubeugen, brauche es in erster Linie keine widerstandsfähigeren Mitarbeiter, sondern bessere Bedingungen auf allen beruflichen Ebenen.
BAuA-Forscher Burr zählt eine ganze Reihe an Schutzmaßnahmen auf, die Arbeitgeber umsetzen können. So sollten sie ihren Angestellten einen größeren Einfluss auf das Arbeitspensum und -tempo gewähren. „Bei einem Busfahrer geht das logischerweise schlechter als im Büro“, sagt Burr. Aber auch in solchen Jobs könne man Mitarbeitern mehr Selbstbestimmung ermöglichen, etwa bei der Verteilung der Schichten.
Zudem empfiehlt die BAuA, Arbeitszeiten transparent festzulegen, Unterbrechungen zu reduzieren und Rollen klar zu definieren, mitsamt ihren Aufgaben und Befugnissen. Nicht zuletzt sollten Führungskräfte ihre Angestellten besser unterstützen. Burr sagt: „Einen Mitarbeiter anzuerkennen, bedeutet nicht nur, seine Erfolge wertzuschätzen – sondern auch wahrzunehmen, wenn er stark belastet ist.“
Und wie wäre es mit einer weiteren Arbeitsschutzunterweisung – nur eben für die seelische Sicherheit? Dieter Zapf ist da eher skeptisch. „Für ergonomische Gefährdungen gibt es immer eine eindeutige Lösung, bis hin zur feuerfesten Unterlage für die Kaffeemaschine“, sagt er. „Bei psychologischen Phänomenen ist das nicht so.“ Stattdessen würde Zapf in Deutschlands Betrieben gern das „Psychosocial Safety Climate“-Konzept durchsetzen, mit dem sich erheben lasse, wie sehr Führungskräfte wirklich um das Wohl ihrer Mitarbeiter besorgt sind.
Denn er habe häufig erlebt, dass Vorgesetzte nur deshalb bessere Jobbedingungen wollten, damit die Belegschaft mehr arbeitete. „Die kümmern sich um die Gesundheit ihrer Beschäftigten mit Dollarzeichen in den Augen“, resümiert er. „Das macht sie unglaubwürdig – und es funktioniert nicht.“
Hier lauern Gefahren für die seelische Gesundheit
Die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin hat eine Liste zu psychischen Gefährdungen im Beruf zusammengestellt. Dazu zählen belastende Arbeitsaufgaben wie unvollständige, abwechslungsarme, sozial isolierte Tätigkeiten und wenig Einflussmöglichkeiten. Auch die Arbeitsorganisation und -zeit können problematisch werden; etwa bei Pausenausfall, überlangen Diensten, unklarer Kommunikation und Zuständigkeit oder ungünstigen Schichten.
Konfliktreiche soziale Beziehungen wie destruktives Führungsverhalten, verbale Aggressionen und Mobbing haben ebenfalls negative Folgen. Nicht zuletzt ist eine widrige Arbeitsumgebung, die zu laut, schlecht beleuchtet oder unzureichend klimatisiert ist, ein weiterer Risikofaktor.