Als der „Tirpitz“-Kommandant „Rette sich, wer kann“ befahl
Die Angreifer kamen mit der Sonne im Rücken: Am Morgen des 12. November 1944 attackierten Bomber der Royal Air Force in einem nordnorwegischen Fjord das letzte deutsche Großkampfschiff. Die „Tirpitz“ hatte keine Chance. Mindestens 940 Seeleute sterben.
Strahlender Sonnenschein und eisige Kälte liegen über dem Fjord von Tromsø. Seit dem frühen Morgen des 12. November 1944 sind in der Funkzentrale des Schlachtschiffs „Tirpitz“ schon mehrere Meldungen eingelaufen, in denen von feindlichen Bombern die Rede ist. Doch die Maschinen fliegen entweder über Mittelnorwegen nach Osten, also nach Schweden, oder über das Nordmeer Richtung Barentssee. Also keine Gefahr für das letzte deutsche Großkampfschiff, das sich mit schweren Beschädigungen durch einen britischen Luftangriff im September in den Fjord gerettet hat, um hier als schwimmende Batterie zu dienen.
Einige Besatzungsmitglieder jedoch haben ein schlechtes Gefühl: „Wenn die da oben schlau sind, dann kommen sie aus Richtung Sonne“, sagt ein Richtschütze zu seinen Kameraden. Bald darauf, gegen halb zehn Uhr vormittags, sieht er durch das Fernrohr seiner 3,7-cm-Flak „winzig kleine Punkte auf uns zukommen“. Spontan denkt er an „Fliegendreck auf einer ungeputzten Fensterscheibe“.
In Wirklichkeit sind es 30 viermotorige Bomber des Typs „Lancaster“, die Mehrzahl von der auf Punktangriffe spezialisierten 617. Squadron des Bomber Command, einer Elitestaffel der Royal Air Force. Die Maschinen stehen unter dem Kommando von Captain James Tait.
In der vergangenen Stunde, seit sie beim Überfliegen der Küste in Mittelnorwegen gesichtet worden sind, schleichen sie mit minimaler Geschwindigkeit über den norwegischen Gebirgen nach Nord, zum Fjord von Tromsø – mit der Sonne im Rücken. Bei den Maschinen, die über dem Nordmeer Richtung Barentssee geflogen sind, handelt es sich um ihre Wetteraufklärer.
Bald nach halb zehn Uhr vormittags entdeckt James Tait aus etwa 32 Kilometern Entfernung sein Ziel – die „Tirpitz“. Später beschreibt er, wie er das riesige Schiff „gedrungen und schwarz zwischen Torpedonetzen“ liegen sieht „wie eine Spinne in ihrem Netz“. Seine Silhouette zeichnet sich gegen das glitzernde blaugrüne Wasser des Fjords ab.
Nach der ersten Sichtung hat der neue Kommandant der „Tirpitz“, Kapitän zur See Robert Weber (im Amt erst seit neun Tagen), sofort die notwendigen Befehle gegeben: Beim etwa 65 Kilometer südlich gelegenen Luftwaffenstützpunkt Bardufoss fordert er Jagdflieger an. Zweitens weist er an, das Schlachtschiff umgehend einzunebeln, und drittens die schweren Geschütze feuerbereit zu machen.
Doch aus Bardufoss kommt nur eine Maschine nach Tromsø, eine Focke-Wulf Fw-190, am Steuer das Fliegerass Heinrich Ehrler; die übrigen etwa zehn Flugzeuge, die starten, fliegen versehentlich zum ehemaligen Liegeplatz des Schlachtschiffs. Auch die Einnebelung misslingt, denn die eigentlichen Rauchgeneratoren der „Tirpitz“ sind nach der Verlegung aus einem anderen Fjord noch nicht aufgebaut, sodass nur hilfsweise einige Fischerboote zur Verfügung stehen, um Rauch zu produzieren – zu wenig.
Dagegen erfüllen die Kanoniere der Hauptgeschütze ihre Aufgabe; ihr Training hat lange in Webers Verantwortung gelegen, als er noch Erster Offizier der „Tirpitz“ gewesen ist. Um 9.38 Uhr eröffnen sie das Feuer mit Splittergranaten, deren Zeitzünder für Sperrfeuer gegen angreifende Flugzeuge ausgelegt sind. Auch die kleineren Geschütze feuern auf die „Lancaster“, als diese sich nähern. Doch es nützt nichts.
Um 9.41 Uhr wirft James Taits Flugzeug als erstes seine 5,4 Tonnen schwere „Tallboy“-Bombe ab. Nach drei Minuten haben alle Maschinen der 617. Squadron die Spezialkonstruktion gegen Bunker und ähnliche „gehärtete Ziele“ aus einer Höhe von etwa 4500 Metern abgeworfen. Es folgen dann noch mehrere „Lancaster“ der 9. Squadron, die zur Unterstützung aufgeboten ist. Obwohl es weniger Maschinen sind, brauchen sie eine Minute länger – deren Piloten fliegen einfach nicht so dicht aneinander wie die intensiv trainierten Männer von Taits Staffel.
An Bord des Schlachtschiffs wundern sich die Schützen der leichten Artillerie über die gigantische Größe der Bomben, die auf sie fallen. „Kinder, Kinder!“, ruft ein Geschützführer, „das sind ja Apparate, so groß wie der Kessel einer D-Zug Lokomotive! Wenn das man gut geht!“
Es geht nicht „gut“. Mehrere „Tallboys“ klatschen ins Wasser, Fontänen steigen himmelhoch auf. Schlimmer sind die zwei Treffer auf Deck. „Qualm, Höllenlärm, Schreie der Aufregung und immer wieder Bomben“, erinnert sich ein Augenzeuge. Einer der jeweils 2000 Tonnen schweren Hauptgeschütztürme wird einige Meter aus dem Rumpf emporgeschleudert und versinkt dann in den Fluten. Langsam legt sich die „Tirpitz“ nach Backbord. Viele Matrosen, die Flugabwehrgeschütze besetzt haben, werden durch Bombensplitter getötet oder verwundet, im besseren Fall „nur“ durch den Explosionsdruck von Bord gefegt.
Um 9.45 Uhr befiehlt Kapitän Weber, die unteren Abteilung der „Tirpitz“ zu evakuieren – er rechnet damit, dass der Fjord zu niedrig ist, als dass sein Schiff kentern oder untergehen könnte. Fünf Minuten später explodiert das Magazin eines Hauptgeschützturms, woraufhin sich die Schlagseite weiter verstärkt. Erst jetzt gibt Weber den Befehl, das Schiff zu verlassen. Es ist zu spät: Die „Tirpitz“ kentert um 9.52 Uhr. Fast tausend Besatzungsmitglieder sind zu diesem Zeitpunkt entweder bereits getötet oder im Rumpf gefangen – darunter auch Robert Weber und fast alle seine Offiziere.
Nachdem der Kommandant „Rette sich, wer kann“ befohlen hat, kommen viele Seeleute aus dem Stahlleib gekrochen, springen in das eiskalte Wasser, klammern sich an die Netzsperre gegen Torpedos, die sie schwimmend erreichen, oder an andere Gegenstände. Viele erfrieren und versinken in die Tiefe; andere halten durch, bis sie von Rettungsbooten aufgenommen werden. Mindestens 596 Mann werden bis Mittag in Sicherheit gebracht.
Auch im Schiffsrumpf kämpft jeder um sein Leben. Die Beleuchtung ist ausgefallen; was oben war, ist jetzt unten. Viele Eingeschlossene fliehen, soweit sie sich zurechtfinden können, vor dem öligen Wasser, bis sie dann ermattet feststellen müssen, dass es nicht mehr weitergeht. Für sie ist der Tod nur noch eine Frage der Zeit. Andere schaffen es, sich Meter für Meter bis in die ehemals untersten Abteilungen des Rumpfes vorzuarbeiten.
Ihre Kameraden versuchen derweil, mit Schweißgeräten den Rumpf unterhalb des Steuerbordpropellers der „Tirpitz“ zu öffnen. Durch Klopfzeichen verständigen sie sich mit den Männern im Inneren des Stahlgiganten. Schließlich können so etwas mehr als 80 Seeleute gerettet werden.
Insgesamt werden in den kommenden Jahren 940 Tote entweder geborgen oder anderweitig, etwa durch ihre Erkennungsmarken, identifiziert. Vermisst bleiben seit dem Kentern der „Tirpitz“ am 12. November 1944 um 9.52 Uhr ungefähr 264 Mann. Die Zahl der Geretteten schwankt, denn am tödlichen Sonntagmorgen waren nicht alle nominell 2104 Mann der Besatzung an Bord.
Mit dem Kentern des größten deutschen Kriegsschiffs aller Zeiten (die 1941 versenkte „Bismarck“ war drei Meter kürzer) endet nach einem guten halben Jahrhundert der Versuch der Kriegsmarine, den angloamerikanischen Seemächten Konkurrenz zu machen. Zynisch-nüchtern diktiert Propagandaminister Joseph Goebbels seinem Sekretär: „Das Schiff musste irgendwann einmal verloren gehen; es stand auf einem aussichtslosen Posten.“ Und er fügt hinzu: „Es wäre sicherlich weitsichtiger gewesen, wenn wir im Frieden statt Schlachtschiffen U-Boote gebaut hätten.“