An der Zunge aufgehängt, lebendig begraben oder geköpft
Der Zweite Weltkrieg begann schon 1931 im Pazifik mit der Eroberung der Mandschurei durch Japan, sagt der britische Historiker Richard Overy. Er gibt die eurozentrische Perspektive auf und beschreibt eindrucksvoll das brutale Vorgehen des Kaiserreichs in China.
Die Geschichte des Zweiten Weltkriegs beginnt mit einer Propaganda-Farce: Ein Geheimdienst-Kommando einer Großmacht inszeniert einen vermeintlichen Überfall feindlicher Kräfte auf eine eigene Position, was als Argument für die anschließende Kriegserklärung herhalten muss. So geschehen am 31. August 1939, als einige SS-Männer, getarnt als polnische Freischärler, den Sender Gleiwitz überfielen. Wenige Stunden später erklärte Hitler, es werde gegen Polen „jetzt zurückgeschossen“.
Dass sich ein ähnliches Szenario acht Jahre zuvor im fernen China ereignete, ist weniger bekannt. Dort explodierte am Morgen des 18. September 1931 bei Mukden (heute Shenyang) eine Bombe neben den Gleisen der Südmandschurischen Eisenbahn, die den japanisch besetzten Teil der Mandschurei mit dem Hafen Port Arthur (Lüshunkou) am Gelben Meer verband.
Japanische Zeitungen meldeten umgehend „einen empörenden Gewaltakt“ chinesischer Soldaten, auf die „unsere Posten sofort das Feuer erwiderten“. Tatsächlich war der Sprengsatz von Spezialisten der kaiserlichen Kwantung-Armee gezündet worden, um eine Offensive zu begründen, die bis Anfang 1932 zur Eroberung der Mandschurei führte, einem Gebiet fast von der Größe Kontinentaleuropas. Mit der Installation des Satellitenstaates Mandschukuo machte Japan damit den ersten Schritt zu seiner „Großostasiatischen Wohlstandssphäre“, die nach dem Überfall auf die US-Pazifikflotte in Pearl Harbor im Dezember 1941 Gestalt annahm.
Nicht umsonst eröffnet der Brite Richard Overy seine neue monumentale Geschichte des Zweiten Weltkriegs mit dem sogenannten Mukden-Zwischenfall. Denn der Historiker von der Universität Exeter, der durch maßgebliche Studien über die Rote Armee oder den Bombenkrieg ausgewiesen ist, deutet den „Weltenbrand“, so der Titel, als „großen imperialen Krieg“. Der aber begann am Morgen des 18. Septembers 1931 mit Japans erstem Eroberungszug in China.
Overy zufolge war für Japan, Deutschland und Italien die imperiale Erweiterung des eigenen Machtbereichs der entscheidende Faktor. So anachronistisch das klingt: Die Dreibund-Partner nahmen sich die real existierenden Imperien der Sieger des Ersten Weltkriegs, England und Frankreich, zum Vorbild, denn „das imperiale Paradigma war vertraut und naheliegend“. „Die anderen Faktoren, die in Analysen zum Ursprung des Zweiten Weltkriegs meistens im Vordergrund stehen – Wettrüsten, diplomatische Krisen, ideologische Konflikte“, so Overy, „waren Auswirkungen dieser neuen imperialistischen Welle, nicht ihre Ursachen.“
Man kann über diese Interpretation diskutieren. Auf jeden Fall verändert sie den Blick auf den Zweiten Weltkrieg von Grund auf, indem sie sich von der eurozentrischen Perspektive löst. Anders als in den meisten Darstellungen sieht Overy den Krieg im Pazifik nicht als bloßen Appendix, sondern bezieht ihn gleichberechtigt in sein Panorama ein. Damit wird deutlich, dass der globale Konflikt nirgendwo länger gedauert hat als in China.
Dort ging die japanische Ausdehnung nach der Eroberung der Mandschurei gnadenlos weiter, weil „die japanische Armee und ihre politischen Unterstützer in Tokio einen zuvor ungeahnten Appetit auf weitere imperiale Eroberungen entwickelten“, schreibt Overy, ohne dass dies ins Bewusstsein der Weltöffentlichkeit drang. So wurde in der Inneren Mongolei ein zweiter Marionettenstaat namens Mengjiang gegründet.
Ein banaler Zwischenfall zündete am 7. Juli 1937 eine weitere Eskalationsstufe im chinesisch-japanischen Konflikt. An der Marco-Polo-Brücke bei Peking verlor eine japanische Kompanie bei einer Nachtübung den Kontakt zu einem Soldaten. Die Bitte, nach ihm suchen zu dürfen, wurde von nationalchinesischen Truppen Chiang Kai-sheks verweigert, woraufhin die Japaner ein Lager stürmten. Das diente den Führern der Kwantung-Armee und ihren Parteigängern in Tokio als Vorwand, weitere Divisionen in die Region zu verlegen. Schließlich ergab sich die kaiserliche Regierung dem Drängen der Armee: Am 29. Juli marschierten japanische Soldaten in Peking ein.
Chiang Kai-shek, der starke Mann der Kuomintang, gab daraufhin die Parole aus „Chinesen kämpfen nicht gegen Chinesen! Vereinigter Widerstand gegen Japan“ und versuchte, konkurrierende Warlords und die Kommunisten, die er bis dahin nach Kräften attackiert hatte, in einer nationalen Abwehrfront zusammenzufassen. Seine eigenen Truppen waren den Japanern zwar zahlenmäßig überlegen, aber wesentlich schlechter gerüstet und ausgebildet.
Daher ging die japanische Führung davon aus, Chiangs Ressourcen in einem dreimonatigen Blitzkrieg zerstören zu können. Doch je weiter die Japaner in die riesigen Weiten des Landes vorrückten, desto gewaltiger wurden die Probleme der Logistik; je größer das zu kontrollierende Gebiet wurde, desto stärker zerfaserten die Truppenteile. Erst Mitte November konnte die inzwischen auf 21 Divisionen aufgestockte Armee unter großen Verlusten Shanghai erobern.
Das nächste Ziel war Chiangs Zentrale Nanking (Nanjing). Die Japaner quälten sich nach Overy „auf dem Weg in die Hauptstadt voran, verfolgten einen demoralisierten und desorganisierten Feind, brannten Dörfer nieder und schlachteten die Dorfbewohner ab“. Am 13. Dezember fiel Nanking. Es „folgten tagelange Plünderungen, Vergewaltigungen und Morde“.
Das „Crescendo von Gräueltaten“ erklärt sich zum einen aus einem rassistischen Überlegenheitsbewusstsein der kaiserlichen Soldaten, das von ihrer Führung noch gefördert wurde, zum anderen aus dem Grauen des Krieges, das zu Radikalisierung und Abstumpfung führte. Chinesische Soldaten, die sich ergaben, wurden an Ort und Stelle hingerichtet, Verwundete mit dem Bajonett erledigt, schreibt Overy. Das waren nicht zuletzt Reaktionen auf den Partisanenkrieg, den Chiangs Soldaten entfesselten. Ein japanischer Soldat notierte: „Auch der Zeitvertreib mit den Verwundeten und dass man sie dazu brachte, sich selbst zu töten, war ein Spaß.“
Der Höhepunkt der Grausamkeit wurde bei der Eroberung von Nanking erreicht, bei der 20.000 chinesische Soldaten und viel mehr Zivilisten niedergemetzelt wurden – japanische Wissenschaftler halten 100.000 bis 200.000 Opfer für realistisch, chinesische nennen bis zu 300.000. 20.000 Frauen wurden vergewaltigt. „Das japanische Oberkommando in China wollte zwar, dass die eigenen Soldaten Zurückhaltung übten, aber die langen, von harten Kämpfen in einer endlosen Landschaft geprägten Monate förderten das Verlangen nach Rache“, erklärt Overy die Motivation der Täter.
Daran hatte die Führung durchaus ihren Anteil, indem sie chinesische Soldaten als Banditen einstufte und damit der enthemmten Brutalisierung Vorschub leistete. „Ich trat achtlos auf die Leichen von chinesischen Soldaten“, heißt es im Tagebuch eines Japaners in Nanking, „denn mein Herz war wild und unruhig geworden.“
Chinesische Soldaten wurden an der Zunge aufgehängt, lebendig begraben, bei lebendigem Leib verbrannt, für Bajonettübungen verwendet, im Winter nackt in Eislöcher geworfen. Overy berichtet von zwei japanischen Offizieren, die sich einen Konkurrenzkampf lieferten, wer zuerst 100 Chinesen mit dem Schwert geköpft haben würde. Als einer von ihnen es bis zum März 1938 auf die Zahl von 374 brachte, wurde er in Liedern und Gedichten zur nationalen Berühmtheit.
Dieses brutale Verhalten legten japanische Soldaten ab 1941 auch gegenüber amerikanischen, englischen oder australischen Truppen an den Tag, was einen Teufelskreis in Gang setzte. „Nicht jeder Soldat der Alliierten und auch nicht jeder japanische Soldat beging Handlungen, die gegen das Kriegsrecht verstießen“, resümiert Overy. „Aber im Pazifikkrieg waren solche Vergehen gang und gäbe. Soldaten und Marineinfanteristen mussten nicht damit rechnen, für solche Taten bestraft zu werden.“
Richard Overy: „Weltenbrand. Der große imperiale Krieg, 1931–1945“. (A. d. Engl. v. Henning Thies u. Werner Roller. Rowohlt, Berlin. 1520 S., 48 Euro).