CDU-Spendenaffäre 1999

Wie Angela Merkel ihren Förderer Helmut Kohl erledigte – und warum

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Von Sven-Felix KellerhoffLeitender Redakteur Geschichte
Stand: 07:39 UhrLesedauer: 7 Minuten
Wolfgang Schäuble und Angela Merkel 1999 bei einer Pressekonferenz im CDU-Haus in Bonn
Wolfgang Schäuble und Angela Merkel 1999 bei einer Pressekonferenz im CDU-Haus in BonnQuelle: picture alliance/SZ Photo/LS-Press

Am 22. Dezember 1999 ging die CDU-Generalsekretärin voll ins Risiko – und schickte per Zeitungsartikel einen „Scheidungsbrief“ an den Ex-Kanzler. Wie schildern Wolfgang Schäuble und Angela Merkel den Vorgang in ihren Memoiren?

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Das Erdbeben traf die deutsche Politik zwei Tage vor Weihnachten. Am 22. Dezember 1999 erschien in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ sehr prominent auf der zweiten Seite ein Text, der die CDU erschütterte. Angela Merkel, seit 13 Monaten Generalsekretärin der nach der Wahlniederlage 1998 oppositionellen Union, erledigte ihren eigenen Förderer Helmut Kohl – und öffnete zugleich sich selbst den Weg an die Spitze.

Zwar umfasste der Text 941 Wörter, doch wirklich wichtig waren davon nur zehn: „Die von Kohl eingeräumten Vorgänge haben der Partei Schaden zugefügt.“ Dieser eine Satz bedeutete politisch ein „All in“ Merkels – die allerdings, soweit bekannt, keine Neigung zum Pokerspiel hat.

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Der Termin war exakt ausgewählt: Am selben 22. Dezember kam in Bonn das CDU-Präsidium zusammen, um über Konsequenzen aus der Spendenaffäre des langjährigen Vorsitzenden und Bundeskanzlers zu beraten. Drei Wochen zuvor hatte Kohl einräumen müssen, an den zunehmend strengen Parteispendengesetzen vorbei Gelder eingenommen und für Parteizwecke verwendet zu haben.

Altbundeskanzler Helmut Kohl am 16. Dezember 1999 kurz vor der Aufzeichnung der ZDF-Sendung „Was nun, Herr Kohl?“
Altbundeskanzler Helmut Kohl am 16. Dezember 1999 kurz vor der Aufzeichnung der ZDF-Sendung „Was nun, Herr Kohl?“Quelle: picture-alliance/dpa/Ralf Hirschberger

Anschließend kamen immer mehr Details ans Licht: Allein zwischen 1993 und 1998, räumte Kohl ein, habe er bis zu zwei Millionen Mark an Barspenden persönlich angenommen. Persönliche Bereicherung warf ihm niemand vor.

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Jedoch war die illegale Finanzierung der CDU noch weitaus schlimmer. Denn spätestens seit dem Flick-Skandal zu Beginn von Kohls Kanzlerschaft war klar: Jedes Umgehen der Regeln wurde als Angriff auf die in einer Demokratie essenzielle Chancengleichheit verstanden.

Und Kohl zeigte sich uneinsichtig. Er weigerte sich am 16. Dezember 1999 in einer ZDF-Sendung, die Namen der angeblichen Großspender zu nennen und verwies auf sein persönliches Versprechen, Anonymität zu wahren. Damit stellte der Altkanzler sich und sein Ehrenwort über geltendes Recht. Größer konnte der Schaden für die CDU kaum mehr werden.

Immer dieselbe Frau: Angela Merkel in der oberen Reihe (v.l.): 1991, 1994, 1997, 1999, 2000. Und in der unteren Reihe (v.l.): 2001, 2003, 2009, 2010, 2013
Immer dieselbe Frau: Angela Merkel in der oberen Reihe (v.l.): 1991, 1994, 1997, 1999, 2000. Und in der unteren Reihe (v.l.): 2001, 2003, 2009, 2010, 2013Quelle: picture alliance/dpa/Dpa

Jedenfalls dachte man das bis zum Morgen dieses 22. Dezember, eines Mittwochs. Denn Merkels Artikel zwang die Union in eine Situation, in der sich jedes Mitglied bekennen musste.

„Es geht um die Glaubwürdigkeit Kohls, es geht um die Glaubwürdigkeit der CDU, es geht um die Glaubwürdigkeit politischer Parteien insgesamt“, befand Merkel und fuhr fort: „Die Partei muss also laufen lernen, muss sich zutrauen, in Zukunft auch ohne ihr altes Schlachtross, wie Helmut Kohl sich oft selbst gerne genannt hat, den Kampf mit dem politischen Gegner aufzunehmen. Sie muss sich wie jemand in der Pubertät von zu Hause lösen.“

Diese Sätze kommentierte der stellvertretende WELT-Chefredakteur Johann Michael Möller: „Angela Merkel hat den Bruch mit Helmut Kohl vollzogen. Sie hat dies in einer Deutlichkeit getan, die viele in ihrer Partei erschreckt.“

Und er fügte hellsichtig hinzu: „Die kühle Präzision, mit der die junge Generalsekretärin aus dem Osten da zu Werke ging, lässt die alten gewachsenen westdeutschen Milieus ihrer Partei erschaudern. Dort ahnt man, dass der Bruch mit Kohl viel mehr bedeuten könnte: Das ganze westdeutsche Erbe der Union könnte plötzlich infrage stehen.“

Merkels Attacke auf Kohl hinterließ in der ohnehin angeschlagenen CDU eine Trümmerwüste, zumal zwei Monate später auch der Parteivorsitzende Wolfgang Schäuble zurücktreten musste. Schon am 10. April 2000, kein halbes Jahr nach dem „FAZ“-Artikel, wurde Merkel zur neuen Parteivorsitzenden gewählt. Sie blieb es mehr als 18 Jahre – länger amtierte nur Kohl selbst.

Knapp ein Vierteljahrhundert nach dem vorweihnachtlichen Beben sind zwei Bücher erschienen, in denen Merkels Artikel an wesentlichen Stellern begegnet. Zunächst kamen im Frühjahr posthum die „Erinnerungen“ von Wolfgang Schäuble heraus (Klett-Cotta Stuttgart. 651 S., 38 Euro). Buchstäblich mit letzter Kraft dem Tode abgetrotzt, reflektiert der mit 51 Jahren Zugehörigkeit zum Bundestag dienstälteste Parlamentarier der deutschen Geschichte darin sein „Leben in der Politik“.

Ende November 2024 folgten dann, begleitet von einer fast peinlich intensiven Werbekampagne, Merkels Memoiren (Kiepenheuer & Witsch Köln. 736 S., 42 Euro). Über den Titel „Freiheit“ schüttelten viele den Kopf, ebenso über die Abwesenheit auch nur der geringsten Spur Selbstkritik. Für den erfolgreichsten Buchstart des Jahres reichte es trotzdem.

Viel spannender aber als solche nackten Daten ist, was die beiden Bücher beitragen zum Verständnis beispielsweise des 22. Dezember 1999. Nun gilt, wie jeder politisch Interessierte ahnt und jeder Student der Geschichtswissenschaft weiß, das Bonmont: Nirgends wird mehr gelogen als in Memoiren. Aber gerade deshalb ist der Vergleich unterschiedlicher Darstellungen so spannend. Denn ähnliche Lügen verschiedener Autoren sind eher unwahrscheinlich.

Merkel zufolge kam ihr nach dem desaströsen ZDF-Auftritt Kohls der Gedanke, „eine politische Einordnung vorzunehmen, schonungslos, öffentlich, der Zukunft zugewandt“. So viel Pathos schreckt zwar ab, aber man sollte trotzdem weiterlesen. Den Merkel-Erinnerungen zufolge war es ihre Pressesprecherin Eva Christiansen, die den Vorschlag machte, der „FAZ“ als einem der beiden bürgerlichen Leitmedien der Bundesrepublik einen Gastbeitrag anzubieten. „Gute Idee, machen Sie das“, stimmte Merkel ihrer eigenen Darstellung nach zu: „Besser als ein Interview, wo es nur um Konten geht. Ich überleg mir was.“

Mit Wolfgang Schäuble sprach die Generalsekretärin über den Plan nicht. „Der Artikel war in keiner Weise gegen ihn gerichtet, aber ich hatte den Eindruck, dass er ihn untersagt hätte, wenn ich ihm vor seinem Erscheinen davon erzählt hätte.“ Dem hätte sie sich fügen müssen: „Das wollte ich vermeiden und ging deshalb ins Risiko.“

Schäubles Buch bestätigt das weitgehend. Obwohl er Merkel inhaltlich zustimmte, „musste ich den Akt selbst als Vertrauensbruch empfinden“, schrieb er an dieser entscheidenden Stelle seiner Erinnerungen: „Wir waren dauernd in Kontakt, aber sie hatte mir kein Wort von ihrem Vorhaben gesagt. Als wir uns kurze Zeit später vor der nächsten Präsidiumssitzung trafen, machte ich meinen Unmut deutlich.“ Merkel wollte ihn auch nach seiner Wahrnehmung „vorher nicht mit dem Inhalt belasten“. Sie habe richtig eingeschätzt, „dass ich einer Veröffentlichung nicht zugestimmt hätte“.

Als weitere Quelle für die Wirkungen des Merkel-Artikels kann man auf die zeitgenössischen Berichte der Medien zurückgreifen. Dabei stößt der Historiker jedoch in Deutschland auf ein ausgesprochen ärgerliches Hindernis: Die meisten einschlägigen Sendungen des gebührenfinanzierten Fernsehens sind, wiewohl in den Archiven von ARD und ZDF erhalten, für die Öffentlichkeit faktisch unzugänglich – ein Skandal, den Zeithistoriker seit Jahrzehnten anprangern, den der Öffentlich-rechtliche Rundfunk aber bis auf höchstens kosmetisches Entgegenkommen nicht zu ändern gewillt ist.

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Man kann also nur auf private Zeitungen und Zeitschriften zurückgreifen, die teilweise als gedruckte Originale, teilweise bereits digitalisiert in staatlichen Bibliotheken oder Archiven verfügbar sind. Damit fällt jedoch ein wesentlicher Teil der Medienöffentlichkeit weg, denn die Breitenwirkung des Fernsehens kann nur indirekt erschlossen werden.

Gegenüber WELT bemühte sich Merkel, die Wirkung ihres „Scheidungsbriefes“ (so Wolfgang Schäuble) zu relativieren: „Nur wer aufklärt, kann die historischen Verdienste Helmut Kohls für Deutschlands Einheit und die Einigung Europas bewahren. Transparenz und Traditionswahrung bedingen einander.“

Angela Merkels Memoiren in einem Buchgeschäft Ende November 2024
Angela Merkels Memoiren in einem Buchgeschäft Ende November 2024Quelle: picture alliance/Sipa USA/SOPA Images

Das Hamburger Magazin „Der Spiegel“, schon seit Jahrzehnten auf dem Kriegspfad gegen den ehemaligen Bundeskanzler, überschrieb seine Titelgeschichte dagegen hämisch mit den Worten: „Kohl kaputt“ Es handelte sich um ein Zitat aus einem ähnlichen Artikel des Blatts aus dem Jahr 1979.

Charakteristisch für Merkels Buch ist übrigens, wie sie die Folgen für sich selbst schilderte: „Die Funktionsträger der Partei waren über meinen ,FAZ‘-Artikel gespalten, die Parteibasis überwiegend erleichtert gewesen. Es wurden Stimmen laut, dass ich Parteivorsitzende werden sollte“, heißt es da, und weiter: „Ich dachte nach.“ Die Gelegenheit, Vorsitzende der CDU zu werden, dürfte sie kein zweites Mal bekommen. Das bedeutete, dass sie auch nach dem Amt des Kanzlers würde greifen können. Eine Herausforderung.

Wieder folgt ein typischer Merkel-Satz: „Dennoch konnte ich die Fragen, ob ich es mir zutraute, CDU-Vorsitzende und damit potenziell auch Bundeskanzlerin zu werden, für mich persönlich bejahen.“ Freilich wagte sie sich noch nicht aus der Deckung: „Ich war unsicher, ob die CDU und ich diesen Weg tatsächlich würden gemeinsam gehen können und wollen.“

Soll man wirklich glauben, dass es Merkel beim „FAZ“-Artikel vom 22. Dezember 1999 gar nicht um ihre eigene Karriere ging? Dass sie bei ihrem politischen „All in“ ausschließlich die Ziele Transparenz und Tradition im Blick hatte? Das muss jeder Leser selbst entscheiden.

WELTGeschichte-Redakteur Sven Felix Kellerhoff erinnert sich an ein langes Gespräch, das er mit seinem fassungslosen Vater über Merkels Artikel führte. Und an die eigene Fehleinschätzung, die CDU-Generalsekretärin werde diesen Text politisch nicht überleben.


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