Chemiekatastrophe

„Wir sahen Tausende sterben. Sie atmeten zum letzten Mal“

Von Florian Stark
Stand: 19.12.2024Lesedauer: 4 Minuten
Die Chemiefabrik der Union Carbide India Limited in Bhopal
Die Chemiefabrik der Union Carbide India Limited in BhopalQuelle: picture alliance / Chet Hawes

Am frühen Morgen des 3. Dezember 1984 explodierte in einer Chemiefabrik im nordindischen Bhopal ein Tank. Eine toxische Wolke überfiel die benachbarten Slums und tötete bis zu 25.000 Menschen. Noch immer fordert die größte Chemiekatastrophe Opfer.

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Obwohl der Einsatz von Giftgas im Ersten Weltkrieg etwa 90.000 Soldaten das Leben kostete, ging unter Generälen das zynische Wort vom Scheitern dieser Waffe um. Denn verglichen mit den Millionen Opfern der Geschütze und Maschinengewehre war die Zahl geradezu klein. Welche Vernichtungskraft ihm zu eigen ist, sollte Gas 70 Jahre später in Erinnerung rufen. Bei der Havarie einer Chemiefabrik der Union Carbide India Limited im indischen Bhopal starben innerhalb weniger Stunden Tausende Menschen, bis zu 25.000 waren es nach wenigen Tagen, bis zu 500.000 erlitten zum Teil irreversible Gesundheitsschäden. Seitdem steht Bhopal für die größte Chemiekatastrophe aller Zeiten.

Der Tod kam in der Dunkelheit. Kurz nach Mitternacht am 3. Dezember 1984 gelangte Wasser in den Tank 610, in dem Methylisocyanat (MIC) gelagert wurde. MIC wird zur Erzeugung von Pflanzenschutzmitteln eingesetzt, in Verbindung mit Wasser wirkt es explosiv. Und es kam zu einer unkontrollierbaren Reaktion. Dabei entstand Kohlenstoffdioxid, das den Druck im Tank dramatisch erhöhte. Der Behälter explodierte und wurde hundert Meter weit geschleudert. Etwa 42 Tonnen der hochgiftigen Substanz gelangten in die Atmosphäre.

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Die Pestizidfabrik, ein Tochterunternehmen des amerikanischen Konzerns Carbide Corporation, lag inmitten eines Elendsquartiers der Millionenstadt Bhopal, Hauptstadt des nordindischen Unionsstaates Madhya Pradesh. Mehr als eine halbe Million Menschen lebten in unmittelbarer Nachbarschaft des Industriekomplexes. Da MIC schon bei 39 Grad gasförmig wird und dann schwerer als Luft ist, kroch die tödliche Wolke buchstäblich über den Boden. Ohne Warnung fiel sie über die schlafende Nachbarschaft her.

MIC ist eine farblose, tränenreizende Flüssigkeit mit stechendem Geruch, der an Chili erinnert. Nur wenige Tropfen können tödlich sein. Die Wolke zerfraß die Haut und Schleimhäute und gelangte in die inneren Organe. Wer das Gift in größeren Dosen einatmete, bei dem schwoll der ganze Körper an. Innerhalb kürzester Zeit starben die Menschen. Andere leiden noch heute unter den Nachwirkungen: Depressionen, Zittern, Muskelschwäche, Angstzustände, Lähmungen, Leber- und Nierenschäden. Bis in die 2000er-Jahre sei jede vierte Geburt in Bhopal eine Totgeburt gewesen, sagen Betreuer der Opfer.

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Ursache der Katastrophe war eine unheilvolle Verstrickung von Schlamperei und Zufall. Die Fabrik war 1977 in dem Stadtteil JP Nagar von Bhopal in Betrieb genommen worden, um das Schädlingsbekämpfungsmittel Sevin zu produzieren. Da der Absatz in den 80er-Jahren stockte, wurden immer neue Sparmaßnahmen verordnet. Wartungsintervalle wurden gestreckt, die Kontrollen reduziert, preiswerte Ersatzteile verbaut. 1984 stand die Produktion zwar still. Es wird vermutet, dass bei unsachgemäßen Reinigungsarbeiten Wasser in Tank 610 gelangte und die unheilvolle Kettenreaktion in Gang setzte.

epa04509765 Children born with congenital disabilities caused due to the exposure of their parents to gas leakage in Union Carbide gas leak disaster take part in a candle light vigil to pay homage to the people killed in the 1984 Bhopal gas tragedy to mark the 30th anniversary of the disaster in Bhopal, India, 30 November 2014. A gas leak at a Union Carbide Corporation plant in Bhopal on the intervening night of 02 and 03 December in 1984 killed at least 15,000 people in what is considered as one of the world's most significant industrial accident. EPA/SANJEEV GUPTA EPA/SANJEEV GUPTA +++ dpa-Bildfunk +++
Mutter mit ihrem behinderten Kind in BhopalQuelle: picture alliance / dpa

Ein Überlebender erinnerte sich: „Es war Mitternacht. Auf der Straße habe ich gesehen, dass die Leute vor etwas wegliefen. Sie sprachen von einer Explosion in der Stadt. Also nahm ich meine Familie, schloss die Wohnung ab, und wir rannten auch weg. Am anderen Morgen gab die Polizei per Lautsprecher bekannt, dass sich in der Chemiefabrik ein Unfall ereignet habe und dass die Lage jetzt unter Kontrolle sei. Am Fabriktor sahen wir, dass viele Menschen zur Fabrik gekommen waren, weil es hier eine Ambulanz gab. Wir sahen so viele Menschen sterben. Tausende. Sie atmeten zum letzten Mal, direkt vor meinen Augen.“

Auf das Gift folgten Schlamperei, Korruption und Vertuschung. Ganze 25 Jahre brauchte die indische Justiz, um über sieben verantwortliche Manager und Techniker von Union Carbide India das Urteil zu sprechen: Wegen fahrlässiger Tötung erhielten sie zwei Jahre Haft auf Bewährung und eine Geldstrafe von 2100 Dollar. Ganze 15 Jahre nach der Katastrophe verurteilte das höchste indische Gericht das Unternehmen zur Zahlung von 470 Millionen Dollar, weitere 250 Millionen zahlten Versicherungen. Das meiste Geld versickerte in Politik und Verwaltung.

Selbst Opfer mit schweren Behinderungen wurden mit 650 Dollar abgespeist. Kritiker sagen, nur Teile des Entschädigungsfonds seien ausgezahlt worden. Andererseits wurden Leute bedacht, die nicht einmal in Bhopal wohnten – wenn denn ihr Bestechungsangebot hoch genug war.

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Immerhin wurden sieben Krankenhäuser gebaut, die die Betreuung der Versehrten übernehmen sollten. Das Bhopal Memorial Hospital Research Centre ist eines von ihnen. Doch die Geräte sind veraltet, Instrumente sind knapp und Arztstellen vakant. „Über die Jahre hinweg gab es wenig Versuche vonseiten der Regierung, die Gasopfer systematisch zu erfassen, sie medizinisch ausreichend zu versorgen und ihren Gesundheitszustand zu überwachen“, kritisiert die Hilfsorganisation Medico Friend Circle.

In den Slums um die verfallene Fabrik leben heute 100.000 Menschen. Die Mauern mancher Häuser grenzen direkt an das verlassene Gelände. Laut einer Greenpeace-Studie ist der Boden um die Fabrik nach wie vor belastet. Das Grundwasser ist nicht trinkbar. Pläne, die Menschen umzusiedeln, wurden nie realisiert.

Zwar hat das Oberste Gericht Indiens 2004 verfügt, dass die Menschen in den Slums rund um das Fabrikgelände mit sauberem Wasser versorgt werden müssen. Das Wasser muss per Pipeline aus entfernten Reservoirs gepumpt werden, was aber nur in unregelmäßigen Abständen möglich ist. Auch sollen die Leitungen inzwischen derart undicht sein, dass bei heftigen Regenfällen Wasser aus dem kontaminierten Boden eindringt. Die Aufgabe, ihn systematisch zu sanieren, erschöpfte sich bislang in folgenlosen Versprechungen.


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