„Ich begrub mit eigenen Händen meine fünf Kinder in einer Grube“
Die Pest, die ab 1347 wütete, gilt als schwerste Pandemie der europäischen Geschichte. Ein Drittel der Bevölkerung starb. Aber sie sparte einige Regionen aus, wie Pollenanalysen belegen. In Polen oder Irland wurden weiterhin Äcker bestellt.
„Im Juni, Juli und August starben (in Siena) so viele Menschen, dass sie, selbst gegen Entgelt, keiner mehr begraben wollte“, klagte der Zeitgenosse Agnolo di Tura über die Katastrophe, die ab 1347 über Europa hereinbrach. „Weder Freunde noch Verwandte noch ein Priester gingen beim Begräbnis mit ... Ich begrub mit eigenen Händen meine fünf Kinder in einer Grube.“
Der Schwarze Tod, wie die Pestpandemie genannt wurde, hat sich tief in die Erinnerungskultur Europas eingeprägt. Ganze Landstriche wurden entvölkert, bis sie nach einem letzten Ausbruch um Marseille 1720 plötzlich verschwand. Nach manchen Schätzungen sollen dem Bakterium Yersinia pestis, dem Erreger der Beulenpest, allein während seiner ersten Ausbreitungswelle bis 1352 bis zu 50 Millionen Menschen zum Opfer gefallen sein.
Umso erstaunlicher ist daher die Studie, die ein Team des Max-Planck-Instituts (MPI) für Menschheitsgeschichte in Jena durchgeführt hat. Danach war der Schwarze Tod weniger tödlich als bislang angenommen. Vor allem aber variierten die Auswirkungen der Pest von Region zu Region stark, schreiben die Autoren in einem Beitrag für die Fachzeitschrift „Nature Ecology & Evolution“.
Die Wissenschaftler stützen sich dabei auf die Analyse von Pflanzenpollen. Sie können Auskunft darüber geben, welche Pflanzen in welchen Mengen zu welcher Zeit angebaut wurden. Das erlaubt Rückschlüsse auf die Intensität des Ackerbaus oder der Ausbreitung von Wüstungen. Unter der Leitung der PalaeoScience and History-Gruppe des Jenaer Instituts untersuchten die Forscherinnen und Forscher 1634 Pollenproben von 261 Fundstätten in 19 europäischen Ländern, die auf die Jahre zwischen 1250 und 1450 datiert werden können.
Mithilfe der Big-data paleoecology (BDP) wurde die statistische Häufigkeit verschiedener Pollentypen in Bohrkernen analysiert. Damit konnte das Verhältnis von Acker- zu Weideland, schnell wachsendem Buschland und langsamer wachsendem Wald über längere Zeiträume festgestellt werden. Zog sich die agrarische Nutzung zugunsten von Buschland und Wald zurück, ist das ein deutliches Symptom für die Abnahme der Bevölkerung.
Die Studie zeigt, dass die landwirtschaftliche Aktivität Mitte des 14. Jahrhunderts in Mittelitalien, Frankreich, Südwestdeutschland, Griechenland und Skandinavien massiv zurückging, während sie etwa in Polen, Böhmen, Teilen der Iberischen Halbinsel oder in Irland ungebrochen war. „Lokale kulturelle, demografische, ökonomische, ökologische und soziale Gegebenheiten hatten wahrscheinlich einen Einfluss auf die Verbreitung, die Infektionsrate sowie die Sterblichkeit von Yersinia pestis“, folgert die Co-Autorin Alessia Masi.
Zu ähnlichen Ergebnissen kommt die Geschichtswissenschaft. Zeitgenössische Quellen berichten, dass die Pest im Jahr 1347 von einem genuesischen Schiff von der Krim nach Genua und Marseille eingeschleppt wurde. Von dort breitete sie sich geradezu sprunghaft aus. Während Pisa oder Venedig bereits nach wenigen Wochen überfallen wurden, erreichte die Pest Neapel erst im Mai 1348, obwohl es den anderen Städten im gleichen Handelsnetz verbunden war.
Nicht nur die Sprünge der Seuche geben Rätsel auf, sondern auch die Zahlen. In Mailand starben etwa 15 Prozent der Bevölkerung, während im 300 Kilometer entfernten Florenz vier Fünftel der Bürger dahingerafft worden sein sollen. Ähnliches gilt für Siena. Aber wurden von den 40.000 Einwohnern Avignons wirklich 30.000 ein Opfer des Schwarzen Todes?
Der Historiker Volker Reinhardt hat darauf hingewiesen, dass es in keiner europäischen Stadt des 14. Jahrhunderts Einwohnerregister gab. Auch spricht das Überleben von Herrschaft und Verwaltung gegen einen völligen Kollaps der urbanen Zivilisation. Die Zeitgenossen sahen sich allerdings mit einem unbekannten Grauen konfrontiert, dessen Größenordnung sie in Worte zu fassen suchten, die eher Entsetzen als exakte Zahlen wiedergeben.
Andererseits belegen einzelne Zeugnisse, dass die Todesrate in kleinen, abgeschlossenen Gemeinschaften wie Klöstern hundert Prozent erreichen konnte. Auf dem Land, in Dörfern und Weilern, dürfte es ähnlich gewesen sein, jedoch gab es dort keine Chronisten, die darüber berichteten. Umgekehrt werden Stadtbewohner in ihren Darstellungen des Todesdramas die Flüchtlinge vom Land, die in ihren Kommunen Rettung suchten, eingerechnet haben.
Auf der Grundlage von Steuerlisten, Taufregistern, Pfarrbüchern, Zunftverzeichnissen etc. haben Seuchenforscher errechnet, dass zwischen 1347 und 1351 von 75 bis 80 Millionen Europäern etwa ein Drittel starb. Doch das war erst der Anfang. Weitere Pestwellen folgten 1370 bis 1376 und 1380 bis 1383 und in den folgenden Jahrzehnten.
Dass die Seuche weite Räume aussparte, wie die Studie des Max-Planck-Instituts für Menschheitsgeschichte belegt, wird auch von der schriftlichen Überlieferung bestätigt. Bis heute ungeklärt ist das Beispiel Polen, wo die Quellen von keinem Massensterben berichten. Ähnlich wie in Mailand, wo man drastische Schutzmaßnahmen ergriff, indem Pestkranke in ihren Häusern einfach zugemauert wurden, führte König Kasimir III. strenge Grenzkontrollen ein. Aber ob allein das in dem riesigen Land ausgereicht hat, den Einbruch der Seuche zu verhindern, muss offen bleiben.
Das Beispiel Irland zeigt, wie schwierig die Verknüpfung von ökologischen Daten und historischer Rekonstruktion ist. Denn auf der Insel lassen sich auch andere Gründe für eine Agrarkonjunktur anführen. Mehrere Invasionen von Engländern und Schotten hatten in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts zu schweren Bevölkerungsverlusten geführt. Nach dem Ausbruch des Hundertjährigen Krieges gegen Frankreich 1337 zogen sich viele Engländer nach Britannien zurück und überließen ihre Besitzungen Verwaltern, die unterworfene irische Kleinbauern zum Anbau einsetzten. Das Land wurde also bewirtschaftet, aber von wie vielen Menschen bleibt unklar. Historiker gehen für Irland ebenfalls von schweren Bevölkerungsverlusten im 14. Jahrhundert aus.
Auch der Zeitraum der MPI-Studie lässt weitere Erklärungen zu. Die permanenten Kriege etwa in Frankreich, in Italien oder in Griechenland, wo die Osmanen beständig ihren Machtbereich erweiterten, werden zu schweren Verwüstungen geführt haben, die ihren Niederschlag in der Aufgabe landwirtschaftlich genutzter Flächen gefunden haben. Das Gleiche gilt für die beginnende Kleine Eiszeit, die Hungersnöte und hohe Sterblichkeit zur Folge hatte.
„Es gibt kein universelles Modell für ‚die eine Pandemie‘ oder ,den einen Pestausbruch‘, welches für jeden Ort und jeden Zeitpunkt angewendet werden kann“, resümiert denn auch Adam Izdebski, Leiter der PalaeoScience and History-Gruppe. „Pandemien sind komplexe Phänomene, die jedoch auch immer regionale und lokal unterschiedliche Ausprägungen aufweisen. Was wir schon während der Covid-19-Pandemie erlebten, konnten wir nun auch für die damaligen Pestausbrüche zeigen.“
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