So geriet der Judenretter Raoul Wallenberg in die Fänge Stalins
Am 12. Januar 1945 verschwand der schwedische Diplomat und Judenretter Raoul Wallenberg aus Budapest. Stalin wies alle Verantwortung von sich. Erst zwölf Jahre später wurde der wahre Aufenthaltsort Wallenbergs bekannt.
Es war eine Einladung, die man nicht ablehnen konnte: Am 12. Januar 1945 erhielt der schwedische Diplomat Raoul Wallenberg die Aufforderung, sich baldmöglichst im Gefechtsstand von Marschall Rodion Malinowski zu melden, dem sowjetischen Oberbefehlshaber in der immer noch tobenden Schlacht um Budapest.
Wallenberg war seit Juli 1944 in der ungarischen Hauptstadt und hatte hier eine geheime Hilfsaktion für Juden durchgeführt, um möglichst viele von ihnen vor der Deportation in den Tod zu schützen. Natürlich kam dieser Einsatz zu spät, denn mehr als 400.000 jüdische Ungarn waren bereits seit Mai 1944 ins Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau gebracht worden. Mit schwedischen „Schutzpässen“ und „Schwedenhäusern“ schaffte er es, Tausende Menschen vor antisemitischen Übergriffen zu schützen.
Bewusst verstieß er dabei gegen die für Diplomaten eigentlich sakrosante Regel, sich aus inneren Angelegenheiten des Gastlandes herauszuhalten. Denn er war ja gerade gekommen, um sich einzumischen. Zusammen mit dem Schweizer Vizekonsul Carl Lutz, dem Spanier Angel Sanz Briz und dem Nuntius des Vatikans, Angelo Rotta, sowie unterstützt vom deutschen Diplomaten Gerhart Feine rettete Wallenberg so etwa 20.000 Menschen vor dem sicheren Tod.
Seit Weihnachten 1944 war Budapest vollständig von der Roten Armee eingeschlossen; der noch von Wehrmacht, SS und ungarischen Faschisten, den Pfeilkreuzlern, gehaltene Teil schrumpfte immer mehr. Am 9. Januar 1945 rückten die sowjetischen Soldaten auch über jenes Versteck hinaus in Richtung Innenstadt vor, in dem Wallenberg selbst zuletzt hatte untertauchen müssen.
Drei Tage später erhielt er die Aufforderung, sich zu Marschall Malinowski zu begeben. Das Hauptquartier der sowjetischen Truppen in Ungarn befand sich zu dieser Zeit in Debrecen, einer Stadt gut 200 Kilometer östlich des immer noch umkämpften Zentrums von Budapest.
Es gibt unterschiedliche Erzählungen über das, was ab dem 12. Januar 1945 mit ihm geschah. Entweder verschwand Wallenberg bereits auf dem Weg nach Debrecen; dieser Version zufolge hatte er schon bei seinem letzten Gespräch vor der Abfahrt zu drei Vertrauten gesagt: „Ich fahre zu Malinowski – ob als Gast oder als Gefangener, weiß ich noch nicht.“
Laut einer anderen Variante kam Wallenberg bei Malinowski an und kehrte sogar fünf Tage später, allerdings unter Bewachung durch zwei Rotarmisten, dorthin zurück. Erst jetzt soll er demnach seine berühmten letzten überlieferten Worte („ob als Gast oder als Gefangener“) gesagt haben Spätestens nach diesem 17. Januar 1945 aber verlor sich wirklich die Spur von Wallenberg.
Schwedens Gesandter in Moskau, Staffan Söderblom, erfuhr, dass sich der vermisste Wallenberg in der „Obhut der Roten Armee“ befinde; er leitete diese Information sofort weiter. In Schwedens Hauptstadt war eine ähnliche Information bereits über private Kanäle angekommen. Sogar erweitert um die Angabe, dem 32-Jährigen gehe es gut, ebenso seinem Fahrer, der mit ihm verschwunden war.
Ein gutes Jahr später allerdings bestritt sowjetische Diktator Josef Stalin im Gespräch mit Söderblom, dass Wallenberg jemals im sowjetischen Gewahrsam gewesen sei. Demonstrativ schrieb er den Namen auf ein Papier, als ob er ernsthaft nachfragen wollte.
In Wirklichkeit hatte der damalige faktische Verteidigungsminister Nikolai Bulganin am 17. Januar 1945 angeordnet, Wallenberg nach Moskau zu bringen. Er wurde mit seinem Chauffeur in die Kellerzellen in der Zentrale des sowjetischen Geheimdienstes NKWD gebracht, die berüchtigte Lubjanka. Anschließend saß er im Lefortowo-Gefängnis, ebenfalls in Moskau.
Vorgeworfen wurde ihm „Spionage“ – wahlweise für die Deutschen (offenbar mit ein Grund: seine Kontakte zu Gerhart Feine) oder für die USA (weil Wallenberg tatsächlich für seine Rettungsaktionen Geld aus den Vereinigten Staaten bekommen und auch dorthin berichtet hatte). Allein diese unvereinbaren Verdächtigungen zeigen, dass es sich bei der angeblichen Spionage um eine reine Erfindung handelte: In Wirklichkeit wurde der Judenretter Raoul Wallenberg ein Opfer der Paranoia Stalins.
Zwölf Jahre lang leugnete die Sowjetunion, dass Wallenberg sich überhaupt in ihrem Gewahrsam befunden hatte. Dann, am 6. Februar 1957, behauptete der neue sowjetische Außenminister Andrei Gromyko plötzlich, Raoul Wallenberg sei bereits am 17. Juli 1947 in seiner Zelle in der Lubjanka tot aufgefunden worden. Mutmaßliche Todesursache sei ein Herzinfarkt gewesen. Doch ein natürlicher Tod war bei einem zu dieser Zeit noch nicht einmal 35 Jahre alten Mann eher unwahrscheinlich – und ohnehin hätte die Sowjetunion eine Fürsorgepflicht für ihn gehabt.
Bis heute hält Russland offiziell an der Version fest, Wallenberg sei im Juli 1947 gestorben. Diese Hartnäckigkeit hat zahlreiche Spekulationen ausgelöst. Zum Beispiel, in Wirklichkeit habe Stalin den Diplomaten als Geisel nehmen lassen, um seine Familie zu erpressen, die eng mit dem schwedischen Königshaus verbunden war. Oder: Wallenberg habe noch jahrzehntelang als „geheimer Gefangener“ gelebt, vielleicht sogar bis über 1990 hinaus.
Fest steht allein: 1989 erhielt die Familie Wallenberg noch vom KGB den Pass und das Tagebuch des Diplomaten zurück; beides hatte er bei sich, als er verschleppt wurde. An der Verantwortung Stalins für das Verschwinden von Raoul Wallenberg kann es daher keine Zweifel geben.
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Dieser Artikel wurde erstmals im Januar 2020 veröffentlicht.