Mit dieser Schlacht zerstörte Russland sich selbst
Nach dem Sturz des Zaren setzte die Provisorische Regierung im Sommer 1917 alles auf eine Karte: eine letzte Offensive sollte Russlands Großmacht bestätigen. Das Ergebnis war eine Katastrophe.
Im Sommer 1917 stand Russland an einem Scheideweg. Zar Nikolaus II. hatte abgedankt, die Provisorische Regierung und der Petrograder Sowjet der Arbeiter- und Soldatendeputierten hatten in einer Doppelherrschaft zusammengefunden, die Ordnung in die Trümmer der zarischen Autokratie zu bringen suchte. Und in weiten Teilen des Landes nahmen Nationalitäten und Bauern das Heft selbst in die Hand und trieben Selbstverwaltung und Landreform voran. Nachdem im April auch Vertreter der Sozialisten in der Provisorischen Regierung Verantwortung übernommen hatten, hätte diese die Chance gehabt, mit mehrheitsfähigen Maßnahmen die Weichen für einen demokratischen Aufbruch zu stellen. Doch die Regierung tat das Gegenteil. Sie entschied sich für die Fortsetzung des großen Krieges.
Die Schlüsselfigur war Alexander Fjodorowitsch Kerenski (1881–1970). Der sprachgewaltige Anwalt aus Simbirsk – sein Vater leitete ein Gymnasium, das auch Lenin besucht hatte – war einer der Führer der Trudowiki gewesen, einer linken Splittergruppe in der Reichsduma, dem Parlament, das der Zar nach der Revolution von 1905 zähneknirschend zugestanden hatte. Wie eine Reihe politischer Gruppen, die sogenannten Narodniki, sahen Kerenski und seine Parteifreunde in den ländlichen Massen die Träger einer gemäßigt-sozialistischen Politik, was sie 1917 an die Seite der größeren Sozialrevolutionären Partei führte.
Als prominenter Sozialist war Kerenski im Februar zum stellvertretenden Vorsitzenden des Petrograder Sowjets gewählt worden. Als er im März zunächst als Justizminister in die Provisorische Regierung eintrat, verfügte er also über eine Legitimation und Machtfülle wie wenige andere Politiker in Russland. Mit dieser Autorität zog Kerenski in die Debatte über die drängende Frage: Sollte Russland den Krieg fortführen oder nicht?
Die vier Offensiven, die General Alexei Brussilow 1916 gegen die österreichische Front geführt hatte, waren stets im Abwehrfeuer der Mittelmächte zum Erliegen gekommen. Mehr noch, die deutschen Gegenschläge im Norden hatten die russischen Truppen wiederholt zum Rückzug gezwungen. Mangelhafte Ausrüstung und eine dramatische Versorgungslage sorgten im Winter 1916/17 schließlich dafür, dass Befehlsverweigerung und Desertion zu einem Massenphänomen wurden.
Doch statt in Friedensverhandlungen mit den Mittelmächten einzutreten, glaubte sich der Zar an die Abmachungen mit seinen Entente-Partnern gebunden, die für den Sommer 1917 koordinierte Offensiven an allen Fronten vorsahen. Als im Februar die Versorgungskrise in Petrograd (wie St. Petersburg seit Kriegsausbruch hieß) die Revolution provozierte, sahen sich die Armeeführer vor die Wahl gestellt, mit Feldtruppen das zarische Regime wiederherzustellen oder Nikolaus II. zu opfern, um den Krieg fortführen zu können. Ihre Entscheidung gegen die Autokratie war nicht zuletzt von der Überlegung getragen, das vorsichtige Eingehen auf einige politische Forderungen der Aufständischen würde neue Ressourcen für den Krieg freisetzen.
Kerenski machte sich zum Wortführer dieses Kalküls. Für ihn stellte sich der große Krieg als Nagelprobe für die patriotische Begeisterung dar, die die Revolution entfacht hatte. Dass sie auch an der Front ankam, dafür sorgte er selbst. Im Mai zum Kriegsminister avanciert, unternahm er ausgedehnte Inspektionsreisen zu den Armeen, auf denen er zahllose Ansprachen hielt. Tatsächlich gelang es dem begnadeten Redner, seine Zuhörer von der Notwendigkeit einer letzten Offensive zu überzeugen, die allein die Gewissheit bieten würde, von den Mittelmächten nicht zu umfangreichen Annexionen gezwungen zu werden.
Doch der patriotische Jubel, den Kerenski entfachte, verebbte umgehend, sobald der Wagen des Ministers am Horizont verschwunden war. Denn die aktuellen Sorgen der Soldaten ließen sich durch die Aussicht auf einen neuen Kampf keineswegs vertreiben. Die Versorgung war weiterhin mangelhaft, die Aussicht, bei der Verteilung von Land und Posten in der Heimat leer auszugehen, bremste ebenso die Begeisterung, noch einmal seine Gesundheit bei einem Sturmangriff aufs Spiel zu setzen, wie die Agitation der Soldatenräte, die sich während der Revolution gebildet hatten, nahelegte.
Daran änderte auch die Berufung neuer Generäle wenig. Als problematisch erwiesen sich auch die Ersatzverbände, die nur höchst widerwillig und mit defätistischen Überzeugungen nachrückten oder, wie einige Petrograder Einheiten, überhaupt den Marsch an die Front verweigerten. Auf der Habenseite konnte die Provisorische Regierung für ihre Entschlossenheit zum Fortführung des Krieges immerhin die Unterstützung durch die westlichen Entente-Mächte verbuchen. Die USA sagten Kredite zu. Außerdem standen erstmals in großer Zahl schwere Geschütze zur Verfügung.
Mit ihnen eröffneten die russischen Truppen am 29. Juni ein bis dahin nicht gekanntes Trommelfeuer auf die Stellungen der österreichischen Truppen an der Südwestfront. Mit drei Armeen begann am 1. Juli der Angriff in Galizien. Das Ziel war Lemberg. In den ersten 48 Stunden gelangen tatsächlich tiefe Einbrüche in die österreichische Front, die in den folgenden Tagen bis zu 30 Kilometer zurückgenommen werden musste.
Aber dann wiederholte sich das Schauspiel, das schon 1916 die zarischen Truppen ruiniert hatte. Mithilfe deutscher Truppen versteifte sich die Front, während die überdehnte russische Logistik zusammenbrach. Zugleich starteten die Deutschen im Norden einen Entlastungsangriff, der die russischen Linien beinahe durchbrach und ihre Moral endgültig zerstörte. Hinzu kamen Verluste von 40.000 Mann, die nicht zu ersetzen waren.
Am 22. Juli erhielt die Provisorische Regierung einen dramatischen Hilferuf von der 11. Armee: „Die deutsche Offensive … ist dabei, den Charakter eines riesigen Desasters anzunehmen mit katastrophalen Folgen für das revolutionäre Russland. In der Moral der Truppe, die sich noch vor Kurzem dank des heroischen Bemühens einer pflichtbewussten Minderheit zu einer Offensive mitreißen ließ, ist ein jäher und verhängnisvoller Umschwung eingetreten. Ein Großteil der Militäreinheiten befindet sich im Zustand völliger Auflösung. … Sie hören nicht mehr auf die Befehle ihrer Vorgesetzten noch auf die Ermunterung ihrer Kameraden, antworten darauf nur mit Drohungen und Schüssen.“ Der revolutionäre Patriotismus, auf den die Provisorische Regierung gesetzt hatte, erwies sich nicht nur als Strohfeuer, das durch die Niederlage umso schneller ausgetreten wurde.
Schüsse hatte es zuvor schon in Petrograd gegeben. Die Bolschewiki sahen die Enttäuschung über die Misserfolge an der Front als Chance für einen Putsch. Dieser „Juli-Aufstand“ vom 16. Juli konnte aber nach wenigen Tagen von regierungstreuen Truppen niedergeschlagen werden. Neuer Ministerpräsident wurde Kerenski.
Mit ihm übernahmen Sozialrevolutionäre und der gemäßigte Flügel der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, die Menschewiki, die volle Regierungsverantwortung. Damit aber wurden sie mit einer Politik identifiziert, die weder den Forderungen der Nationalitäten noch denen der Bauern schnell genug nachkam. Der Grund dafür war das Festhalten an einem Krieg, den die meisten Menschen einfach nur noch beenden wollten.
Mit dem Scheitern der Kerenski-Offensive hatte die Provisorische Regierung aber ihren letzten militärischen Trumpf verloren. Zum anderen verfügte sie kaum noch über loyale Truppenteile, die im innenpolitischen Kampf hätten eingesetzt werden können. Lenin, der Führer der Bolschewiki, registrierte dies von seinem finnischen Versteck aus sehr wohl, war doch der radikale Flügel der Sozialdemokraten als einzige Partei übrig geblieben, die umgehend Frieden, Landreform und nationale Selbstbestimmung versprach und damit größeren Zulauf gewann. Und der gewiefte Berufsrevolutionär erkannte, dass ein weiterer Putsch gegen die Regierung durchaus Chancen haben würde.
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