Vielfalt aus dem Wald

Wie Spitzenköche jetzt Pilze in den Mittelpunkt stellen

Von Oliver Zelt
Veröffentlicht am 26.09.2021Lesedauer: 6 Minuten
+honorarpflichtig+++ Milchbrätlinge
In Mitteleuropa gibt es an die 1000 kulinarisch verwertbare Pilzsorten, eine davon ist der MilchbratlingQuelle: mauritius images / Pitopia

Vom Milchbrätling bis zur Krausen Glucke: Frische Pilze bringen das Aroma des Waldes auf den Teller. In vielen Restaurants entwickeln sie sich deshalb von der Nebenfigur zu Hauptdarstellern.

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Hellgelber Stiel, weiße Lamellen, ein Hut in dunklem Orange: Felix Schneider hat das „Brot des Holzfällers“ aus dem Waldboden gezogen. Der Milchbrätling ist kaum halb so groß wie seine Hand, aber ein toller Speisepilz und eine der wenigen wilden Arten, die man roh verzehren kann. „Die Waldarbeiter aßen ihn früher wie ein Stück Brot, nur mit Salz und Pfeffer“, erzählt der Koch aus Franken. „Er schmeckt deutlich würziger als ein Steinpilz.“

Die weiße Milch, die beim Aufschneiden herausrinnt, gibt dem raren Pilz den Namen und lässt ihn beim Kochen leider leimig werden. „Zudem ist seine Konsistenz eher brüchig, beim Aufschneiden fällt er leicht auseinander“, erzählt der Küchenchef, der im „Sosein“ bei Nürnberg mit einer radikalen Regionalküche berühmt wurde und gerade in einer ehemaligen Metzgerei das „Etz“ eröffnet hat. Deshalb brät er das Knollengewächs scharf an – oder serviert es nach alter Waldarbeiterart roh.

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Der Pilz als puristischer Soloperformer, das passt gut zu Schneiders Konzept, das Jahr in sieben Wachstumsphasen zu unterteilen und den Gästen das Beste von dem aufzutischen, was gerade gedeiht – der Name seines Restaurants ist das fränkische Wort für „jetzt“. Lagen Pilze lange Zeit oft nur als Wegbegleiter für ein möglichst großes Stück Fleisch auf dem Teller, breitet sich dort nun eine bunte Welt der Hutträger aus. Die Auswahl beschränkt sich nicht mehr auf Champignons, Pfifferlinge, Steinpilze und Kräuterseitlinge: Mehr und mehr Köche entdecken die Vielfalt der Sporengewächse, auch weil sie die perfekte Zutat für eine regional ausgerichtete Küche sind. In Mitteleuropa lassen sich knapp 1000 Arten kulinarisch verwerten – eine Riesenressource. Die Aromenpower der Waldgnome bringt intensive Umami-Noten, ihr Pulver macht Saucen rund, ein paar getrocknete Totentrompeten vollenden vegetarische Fonds, und kurz angebratene Stücke bringen eine samtene Textur ins Essen.

Superkrosse Happen

Ein echter Hingucker ist die Krause Glucke. Der Pilz sieht aus wie ein organisches Modell des menschlichen Gehirns. Da er meist an Kiefern wächst, serviert Felix Schneider ihn „mit dem eigenen Terroir“, ergänzt durch Kieferaromen – ein Fest aus dem Forst. Auch Sonja Baumann, Küchenchefin im Kölner Restaurant „Neobiota“, hat die Krause Glucke für sich entdeckt. Die Rheinländerin schneidet den Pilz in Scheiben, die sie zu superkrossen Happen frittiert. „Das ist schon etwas Besonderes“, sagt sie. „Wegen des hohen Wasseranteils kann man nur ganz wenige Pilze frittieren“. So bestehen Champignons zu 90 Prozent aus Wasser. Das Glucken-Knusper legt Baumann zu kurz gebratenem Wildschweinrücken, Quitte und einer fluffigen Pilz-Mousse.

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WS STiL Pilze Gerichte von NeoBiota, Köln
Krause Glucke auf Wildschweinrücken im "Neobiota" in KölnQuelle: Foto: Jennifer Braun

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Im „Neobiota“ ist Fleisch etwas Besonderes, und manchmal übernimmt die Krause Glucke seine Rolle. Die Köchin nimmt dafür daumendicke Scheiben, paniert sie wie ein Schnitzel und legt sie kurz in die Pfanne. „Man hat das Gefühl, in ein Stück Bries zu beißen oder sehr feines Fleisch im Mund zu haben.“ Statt des klassischen Fonds aus Rinderknochen kocht ihr Team einen vegetarischen Jus aus Pilzen. „Es braucht schon eine sehr feine Zunge, um den Unterschied herauszuschmecken“, sagt Sonja Baumann. Auf ihrem Holzkohlengrill duftet ein Kräuterseitling, den die Köchin mit einem vegetarischen Bacongewürz mariniert und mit Öl bestrichen hat. Die Hitze und die Würze geben dem Pilz Schmackes, bevor er ein Stück rosa Roastbeef krönt, zusammen mit halbgetrockneter, leicht angeflämmter Wassermelone und karamellisiertem Knoblauch.

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Leberkäse aus Pilzcreme

Im Berliner Zwei-Sterne-Restaurant „Horváth“ verarbeitet Sebastian Frank den Kräuterseitling zu einer genialen vegetarischen Pilzlebercreme, die einem tierischen Produkt an Aromentiefe in Nichts nachsteht. Die Zubereitung ist aufwendig: Frank püriert die Seitlinge mit Eiweiß glatt und brät die Masse dann in Butter knusprig aus. Das Püree verfeinert er mit noch mehr Butter und einer Reduktion aus weißem Portwein und Madeira für den richtigen Schmelz.

Der gebürtige Österreicher lässt sich immer wieder von den Traditionsrezepten seiner Heimat inspirieren und hat sich auch an einen veganen Leberkäse auf Pilzbasis herangewagt. Ähnlich wie bei der Creme, nur mit Agar-Agar statt Eiweiß, stellt er mit Pflanzenöl als Bindemittel einen feinen, luftigen Block her, gibt noch Holzkohleöl, Selleriesaat und Ingwersirup hinzu und serviert das Ergebnis auf einem Brötchen mit einer milden Senfsauce.

Pillzleber von Sebastian Frank - Horváth, Berlin ©white kitchen
Pilzlebercreme im "Horváth"Quelle: white kitchen

Der festfleischige Kräuterseitling begeistert auch Florian Peters im „The Cord“ in Berlin-Schöneberg. Bei den Hauptgerichten setzt das Fine-Dining-Restaurant auf gereiftes Rindfleisch, doch bei den Vorspeisen und Zwischengängen kann sich der Koch austoben. „Pilze haben einen eigenen Charakter, der zu Wild und Gemüse passt“, sagt er. „Sie lassen sich schwer überrumpeln.“

Peters mag es, die Innenseite eines aufgeschnittenen Pilzes zu braten. Das gehe mit Seitlingen und Steinpilzen, der Pfifferling dagegen fange in der Pfanne an zu wässern und werde gummiartig. Als Begleiter für seine mit Erbsen gefüllten Tortelloni komponiert der Koch eine hochkonzentrierte Essenz und weicht dazu getrocknete Pfifferlinge, Kräuterseitlinge und Spitzmorcheln ein. Schon das bernsteinfarbene Einweichwasser hat es in sich. Er löscht damit angeschwitztes Gemüse ab, füllt mit Madeira, Sherry und weißem Portwein auf und klärt das Ganze am Ende mit Eiweiß. Der dunkle Sud, der dabei herauskommt, hat einen herzhaft-vollmundigen Geschmack, den man so schnell nicht vergisst.

Tortelloni in Pilzessenz aus dem „Tbe Cord“ in Berlin
Tortelloni in Pilzessenz aus dem „The Cord“ in BerlinQuelle: The Cord

Den Kräuterseitling und andere Pilzspezialitäten, die täglich auf den Schneidebrettern der Restaurantküchen liegen, findet man nicht nur in freier Flur. Die Zucht in kühlen Kellern bereichert die Palette mit knallgelben Limonenseitlingen, rosaroten Rosenseitlingen oder dem spektakulären Igelstachelbart, der wie eine Löwenmähne aussieht. Sogar die als schwierig geltenden Morcheln wachsen inzwischen kontrolliert in Gewächshäusern, etwa in Graach an der Mosel.

Glücksmomente im Wald

Felix Schneider aus dem „Etz“ in Nürnberg lehnt Zuchtpilze zwar keinesfalls ab, geht aber am liebsten selbst mit Korb und kleinem Messer in den Wald – auch für den Glücksmoment. „Pilze zu entdecken ist ein wenig wie Gold zu finden“, sagt er. Beim Suchen lernt der Koch eine Menge über die Natur. Über lange, feine Wurzeln führen die Pilze meist ein symbiotisches Zusammenleben mit den Bäumen: „Wenn es den Bäumen wegen Trockenheit oder Lichtmangel nicht gut geht, dann haben auch die Pilze keine guten Aussichten.“

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Schneider freut sich über Raritäten wie den Körnchenröhrling, einen Pilz mit schleimiger Haut, die abgezogen werden muss, damit sich sein Inneres als saftige Delikatesse entpuppen kann. Oder über den Pfeffermilchling, der tatsächlich ziemlich scharf ist.

Die Ausbeute seiner morgendlichen Waldgänge können abends die Gäste im „Etz“ genießen. Sein Pilzteller Waldboden ist angelehnt am „Fang des Tages“ in einem Fischrestaurant und kann mal mehr und mal weniger artenreich sein. Zum Pilzmix gießt der Koch einen Pilztee, der mit fermentiertem Laub aufgekocht wird. Ein flüssiger Teppich, auf dem Öl von der Douglasie schwimmt wie Fettaugen auf einer Brühe. „Dieser Degustierteller kann in drei oder vier Wochen ein komplett neues Gericht sein“, sagt Schneider. „Mit grundverschiedenen Pilzen und völlig anderen Aromen.“


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