14.000 Arten auf über 25.000 Hektar – das ist Biodiversität in Reinform. Um diese Vielfalt für die Zukunft zu sichern, werden Wildtierbestände im Nationalpark Bayerischer Wald, dem größten und ältesten Waldschutzgebiet Mitteleuropas, kontinuierlich mit Hilfe von Fotofallen überwacht. So entstehen pro Tag rund 1.000 Bilder von allem, das sich bewegt, wie Tieren oder Pflanzen. Diese Bilder werden für Forschungszwecke und Bestandsaufnahmen analysiert und kategorisiert. Wo früher sehr zeitaufwendig manuell sortiert wurde, kann heute die gleiche Datenmenge in nur zwei Tagen verarbeitet werden – dank MegaDetector, Microsoft Azure und automatischer Kategorisierung mittels künstlicher Intelligenz. Das Ergebnis: Ein beschleunigter Erkenntnisgewinn für noch mehr Artenschutz.
Die Herausforderung: Manuelle Bild-Kategorisierung kostet enorm viel Zeit
Ein Windstoß bläst abends Blätter durch die Lichtschranke. Klick. Der Auslöser drückt wieder ab. Nach Einbruch der Nacht schleicht auf leisen Tatzen ein Luchs den Wanderweg entlang. Im Schlepptau hat die Mutter zwei Jungtiere. Klick. Am nächsten Morgen sitzt eine Studentin an ihrem Schreibtisch und sichtet alle Bilder des vorangegangenen Tages. Sie kategorisiert diese händisch am PC – nach Tier-, Leer- und Menschen-Bildern – und sortiert sie in eine Datenbank ein. Beim Anblick der Luchs-Familie huscht ein kurzes Lächeln über ihr Gesicht. Dieses verschwindet jedoch, als sie einen Blick auf die lange Liste der Bilder wirft, die noch manuell kategorisiert werden müssen.
„Unser Motto lautet: Die Natur ‚Natur‘ sein lassen“, erklärt Prof. Dr. Marco Heurich, Sachbereichsleiter für Nationalparkmonitoring und Tierfreigelände im Nationalpark Bayerischer Wald und Professor für Wildtierökologie an der Universität Freiburg. „Vorrangig beobachten und analysieren wir. Wir greifen nur ein, wenn es darum geht, die Wildtiere im Nationalpark zu schützen.“ Hierfür setzen die Verantwortlichen zur Überwachung von Tierpopulationen auf Fotofallen, um die Bestände genau dokumentieren zu können. So wird derzeit etwa die Luchspopulation vor Ort von insgesamt 120 Fotofallen auf der deutschen und tschechischen Seite des Waldes beobachtet: Auf diese Weise lassen sich sowohl die Anzahl der Luchse als auch ihr Streifgebiet und die Gesundheit der Population feststellen. Diese Erkenntnisse bilden wiederum die Grundlage für etwaige Managementmaßnahmen: „Der wichtigste und aufwendigste Teil in diesem Prozess ist die Kategorisierung des Bildmaterials“, erklärt Marco Heurich. „Denn nicht jedes Bild zeigt ein Tier – Fotofallen lösen immer aus, wenn sich etwas bewegt. Egal, ob Tier, Mensch, Fahrzeug oder wehende Blätter.“
Die für Marco Heurich und sein Team relevanten Tierbilder wurden in der Vergangenheit manuell von Studierenden aus der Masse der Bilder heraussortiert. Ein zeitintensives Vorgehen – allein die Kategorisierung der Bilder im Luchs-Monitoring dauerte rund 30 Arbeitstage. Und im Nationalpark werden nicht nur Luchse beobachtet: „Im gesamten Wildtier-Monitoring nehmen wir jährlich bis zu 1 Millionen Bilder mit unseren Fotofallen auf“, erzählt Dr. Christian Fiderer, Sachbearbeiter Wildtier-Monitoring im Nationalpark Bayerischer Wald. „Diese manuell zu kategorisieren und auszuwerten, dauerte anderthalb Jahre. Während dieser Zeit kann sich die Tierpopulation aber wieder geändert haben und die Zahlen verlieren ihre Aktualität. Um zeitnahe Ergebnisse zu gewährleisten, müssen wir aber unmittelbar auf Veränderungen in der Population reagieren können.“ Daher entschied sich der Nationalpark Bayerischer Wald dazu, die Kategorisierung der Bilder zu automatisieren: Mit einer neuen Datenbank-Lösung, künstlicher Intelligenz (KI) und Microsoft Azure.
Die Lösung: Mit Microsoft Azure und KI 50.000 Bilder in zwei Tagen vorklassifizieren
Das Herzstück der neuen Lösung bilden heute eine Open-Source-Lösung für die Datenverwaltung und die KI-Lösung MegaDetector. Entwickelt vom Microsoft AI for Earth Team steht MegaDetector als Open-Source-Lösung dem Natur- und Artenschutz zur Verfügung. Beide Lösungen werden vollständig in der Cloud betrieben – auf Azure Virtual Machines. Damit kann die Lösung überall dort eingesetzt werden, wo es die Azure Cloud-Plattform gibt. Deswegen wird die Lösung bereits in anderen deutschen Nationalparks eingesetzt. Egal wo in der Welt die Lösung gebraucht werden sollte, kann sie auch potenziell eingesetzt werden. Die eigentliche Bilderkennung läuft über MegaDetector. Die KI erkennt, was auf den Bildern zu sehen ist und kategorisiert sie in der Datenbank nach Menschen, Tieren oder Leerbild. Das passiert in rasanter Geschwindigkeit:
“Studierende haben früher pro Stunde circa 300 Bilder manuell klassifiziert. Für die Bilder des Luchs-Monitorings benötigten sie so insgesamt circa 30 Arbeitstage. Dank unserer KI-Lösung auf Microsoft Azure können wir die gleiche Datenmenge heute in nur zwei Tagen verarbeiten. Und das parallel zu unserer üblichen Arbeit – oder übers Wochenende.”
Dr. Christian Fiderer, Sachbearbeiter Wildtier-Monitoring, Nationalpark Bayerischer Wald
Da die Fotofallen auch bei Personen auslösen, spielt das Thema Datenschutz für die Verantwortlichen eine große Rolle: „Bevor die Fotos zur detaillierteren Betrachtung zu uns oder den Studierenden kommen, macht die künstliche Intelligenz Menschen mithilfe von Unschärfe vollkommen unkenntlich“, erklärt Marco Heurich. „Eine Identifikation der Personen ist damit unmöglich – der Datenschutz bleibt gewahrt.“
Außer der Kategorisierung von Bildern lernt die KI auch noch mehr: „Beim Wildtier-Monitoring geht es auch darum, zu wissen, wie viele Rehe pro Hektar im Nationalpark leben. Also wie hoch die Populationsdichte ist“, erklärt Christian Fiderer. „Dafür muss man den Abstand zwischen fotografiertem Objekt und Kamera kennen, um Tiere zweifelsfrei einem Kameraradius zuordnen zu können und am Ende Doppelzählungen zu vermeiden. Dieser Abstand wurde in der Vergangenheit manuell geschätzt – mithilfe von Abstandsmarkern im aufgenommenen Bild. Das wollten wir beschleunigen und vereinfachen.“ Was früher zwei Minuten pro Bild dauerte und äußerst fehleranfällig war, geht heute um ein Hundertfaches schneller und ist deutlich präziser. Denn die KI hat gelernt, für jeden Fotofallenstandort anhand von zuvor manuell eingemessenen Punkten im Bild eine Tiefenschätzung im Bild vorzunehmen und so den Abstand von Tier zu Kamera zu erkennen.
“Mit Microsoft Azure, unserer neuen Datenbank und der künstlichen Intelligenz sparen wir 95 Prozent an Kosten beim Wildtier-Monitoring und der Distanzmessung ein.”
Prof. Dr. Marco Heurich, Sachgebietsleiter für Nationalpark-Monitoring und Tierfreigelände, Nationalpark Bayerischer Wald
Der Nationalpark Bayerischer Wald hat mit Microsoft Azure und MegaDetector eine Datenplattform geschaffen, mit deren Hilfe relevante Fragen nun datenbasiert beantwortet werden können: Welchen Einfluss hat beispielsweise der Mensch auf die dortige Natur? Oder: Wie wirkt sich die Ausbreitung von Tieren und Pflanzen auf die Forstwirtschaft außerhalb des Parks aus? Migriert zum Beispiel Rotwild aus dem Nationalpark in angrenzende Gebiete, steigt dort möglicherweise der Verbiss, also das Abbeißen von Knospen, Blättern oder Zweigen, und die Zahl der Verkehrsunfälle mit Wildschaden. Um dem entgegenzuwirken, werden Rotwildbestände kontrolliert reguliert. „Kehren aber natürliche Fressfeinde, wie Wölfe, in den Bayerischen Wald zurück, wird der Grad der Bejagung reduziert“, erklärt Marco Heurich. Hier kann dank der beschleunigten Auswertung der Bilder schnell und frühzeitig reagiert werden, um das Gleichgewicht innerhalb und außerhalb des Parks aufrechtzuerhalten.
Die Potenziale der KI für die Zukunft hat der Nationalpark Bayerischer Wald aber noch nicht vollständig ausgeschöpft, erklärt Marco Heurich: „Wir stehen noch am Anfang des Möglichen: Künftig soll unsere KI nicht nur die vordefinierten Kategorien Tier, Mensch und Leerbild erkennen, sondern auch verschiedene Arten und sogar individuelle Tiere, beispielsweise über ihr Fell. Damit können wir die Natur noch präziser erforschen und uns auf den Schutz der Natur, der Arten und der Biodiversität konzentrieren.“
“Eine langfristige Überwachung, wie wir sie durchführen, ist nur dank Technologien wie Microsoft Azure und MegaDetector realisierbar. Deshalb interessieren sich auch andere Nationalparks in Deutschland für unsere Lösung.”
Prof. Dr. Marco Heurich, Sachgebietsleiter für Nationalpark-Monitoring und Tierfreigelände, Nationalpark Bayerischer Wald
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