Krebserreger: Auf die Kuh gekommen
Prof. Harald zu Hausen, deutscher Krebsforscher und Medizinnobelpreisträger, ist am 28. Mai dieses Jahres gestorben. Zu diesem Anlass spielt die netDoktor-Redaktion erneut einen Artikel , der 2021 auf Basis eines Gespräches mit dem Wissenschaftler entstand.
In der Milch und im Serum europäischer Kühe tummeln sich Krankheitserreger, die die Forschung lange übersehen hat. Auf welche Weise sie Krebs auslösen können und wie man die Infektion schon im Säuglingsalter ausbremsen kann, erklärt Pro. Harald zur Hausen im Gespräch mit netDoktor.
In China isst man traditionell vor allem Schwein. Rindfleisch hingegen kam, zumindest früher, kaum auf den Tisch. Auch den Gedanken, müffelnde Milchprodukte in Form von Käse zu verzehren, fand man im Reich der Mitte lange eher unappetitlich.
Erst kamen die Kühe, dann kam der Krebs
Vor rund vierzig Jahren begannen die Chinesen jedoch, Herden europäischer Milchkühe einzuführen. Mit der Milch wollten sie vor allem die Ernährung der Kinder verbessern.
Was damals keiner ahnte: In der Milch und im Serum europäischer Rinder stecken Krankheitserreger, die später im Leben Krebs verursachen können. Jahrzehnte danach begannen die Krebszahlen in China zu steigen. Das gleiche Phänomen ließ sich auch in Indien und der Mongolei beobachten.
Mehr Steaks, mehr Darmkrebs?
Für Darmkrebs ist der Zusammenhang von Rindfleischverzehr und Erkrankungsrisiko schon lange bekannt. Weniger gut belegt, aber ziemlich wahrscheinlich ist, dass auch das Risiko für Brustkrebs und wohl auch Prostatakarzinome durch Kuhmilchprodukte und Rindfleisch steigt. Auch das zeigt das Beispiel der asiatischen Länder.
Dabei sind es weder Viren noch Bakterien, weder Pilze noch Parasiten, die dafür verantwortlich sind: „Wir haben es mit einer völlig neuen Erregerart zu tun“, erklärt Prof. Harald zur Hausen im Gepräch mit netDoktor. „Bovine Meat and Milk Factors“, kurz BMMF, hat seine Forschungsgruppe am Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg die Krebserreger getauft.
Chromosomenringe mit speziellen Fähigkeiten
Dabei handelt es sich um ringförmige Gebilde von DNA, wie sie vielfach in Bakterien vorkommen. Die Erbgutkringel sind nicht ins Hauptchromosom der Mikroben eingebettet, sondern liegen als Mini-Chromosomen außerhalb davon im Plasma. Plasmide nennt man die DNA-Ringe daher auch. Sie erfüllen spezialisierte Aufgaben für die Organismen - beispielsweise tragen sie Informationen, die das Bakterium gegen Antibiotika resistent machen.
„Erstaunlich weit verbreitet“
„BMMF sind im Grunde genommen Plasmide, die sich verselbständigt haben“, erklärt zur Hausen. Sie haben ihre Struktur so weit verändert, dass ihre genetischen Informationen in Zellen von Rindern und Menschen abgelesen und vervielfältigt werden können.
„In der Bevölkerung sind sie erstaunlich weit verbreitet, weil sie über Milchprodukte und Serum vorn Rindern relativ oft aufgenommen werden“, so zur Hausen. Letzteres gelangt über das Blut im Fleisch der Tiere als Steak oder Goulasch in den menschlichen Verdauungstrakt.
Freie Radikale in der Tumornachbarschaft
Dass BMMF Darmkrebs auslösen können, haben Wissenschaftler aus zur Hausens Team um Dr. Timo Bund nun anhand von Gewebeproben nachgewiesen. Dazu bauten die Wissenschaftler zunächst künstliche Antikörper, die sich an ein bestimmtes Protein (Rep) anheften. Das wiederum benötigen die BMMF für ihre Vermehrung. Indem sie die Antikörper einfärbten, konnten die Krebsforscher BMMF in 15 von 16 Darmkrebs-Gewebeproben nachweisen.
Zur ihrer Überraschung stellte sich heraus: Nicht die Krebszellen selbst enthielten das Rep-Protein, sondern lediglich die Zellen in der unmittelbaren Umgebung der Tumoren. Besonders befallen war eine unter der Darmschleimhaut gelegenen Bindegewebsschicht, die Lamina propria.
Entzündungsreaktionen als Krebstreiber
Das Fehlen der Erreger in den Krebszellen selbst legt nahe, dass die BMMF den Krebs nicht direkt, sondern indirekt verursachen: Sie lösen chorische Entzündungsprozesse aus. Dabei entstehen freie Radikale.
„Solche hochreaktiven Sauerstoffmoleküle begünstigen die Entstehung von Erbgutveränderungen“, erklärt zur Hausen. Die sehr reaktionsfreudigen Sauerstoffmoleküle wirken auf die Nachbarzellen ein und verursachen dort Mutationen im Erbgut, die die Zellen entarten lassen können.
Mutationen unter der Darmschleimhaut
Die Entzündungen traten vor allem in der direkten Umgebung der sogenannten Darmkrypten auf. Dabei handelt es sich um schlauchförmige Vertiefungen, in denen die Stammzellen des Darms sitzen. Um die Darmschleimhaut zu regenerieren, produzieren sie unentwegt große Mengen an Vorläuferzellen, die sich schnell teilen.
Bei jeder Teilung können jedoch Fehler im Erbgut auftreten. Unter dem schädlichen Einfluss der freien Radikale ist das aber häufiger als sonst der Fall – und damit steigt das Risiko, dass Mutationen auftreten, die die Zellen entarten lassen.
Ebenfalls für Entzündungsprozesse typisch ist die Anwesenheit bestimmter Fresszellen (Makrophagen) in der Tumorumgebung. Sie tragen ein bestimmtes Bindungsmolekül an ihrer Oberfläche: CD68. „Diese Immunzellen sollen offenbar das akute Entzündungsgeschehen etwas unterdrücken“, so zur Hausen. Doch auch sie werden vermutlich von BMMF befallen.
Rindserreger in der Tumornachbarschaft
Die Forscher verglichen nun Proben aus der Umgebung von Darmtumoren mit Darmproben gesunder Menschen. Dabei stellten sie fest, dass in Proben der Krebspatienten 7,3 Prozent aller Darmzellen in der Tumorumgebung sowohl das Rep- als auch das CD68-Protein aufwiesen. Bei den Darmzellen der gesunden Kontrollgruppe waren es mit nur 1,7 Prozent signifikant weniger.
„Wir betrachten die BMMF daher als indirekte Krebserreger, die teilweise wahrscheinlich über Jahrzehnte hinweg auf die sich teilenden Zellen der Darmschleimhaut einwirken“, so zur Hausen.
Bei frühem Kontakt nisten sich Erreger ein
Die Infektion mit dem Erreger erfolgt früh: Die meisten Meschen infizieren sich wohl bereits in der frühen Kindheit, nämlich nach dem Abstillen, mit den Rindserregern. „Während der Stillperiode erhalten die Kinder spezielle Zucker über die Muttermilch, die offenbar die Aufnahme solcher Erreger hemmen. Das schützt sie vor einer Infektion“, so zur Hausen.
Von der schützenden Wirkung des Milchzuckers profitieren offenbar auch die Mütter – zumindest wenn sie mehrere Kinder bekommen: „In der Literatur ist schon seit Langem gut belegt, dass Frauen, die mehrfach stillen, seltener an Brustkrebs erkranken“, berichtet der Krebsforscher. Das Rätsel um die Frage, warum das so ist, lässt sich auf Basis dieser Erkenntnisse ganz nebenbei auch lösen.
Langes Stillen schützt
Kinder aber, die ein Jahr lang gestillt würden, kämen mit Kuhmilch erst in Kontakt, wenn ihr Immunsystem bereits ausgereift ist. „Dann kann das Abwehrsystem mit solchen Infektionen fertigwerden“, erklärt der Wissenschaftler. Die Kinder entwickelten dann Antikörper, die sie vor einer späteren Infektion schützten. Ganz ausschließen könne man das zwar nicht. Man habe aber auch keine Hinweise dafür, dass so etwas häufiger passiere.
„Kommen Kinder jedoch mit Kuhmilch in Kontakt, bevor ihr Immunsystem voll entwickelt ist, können sich die Erreger einnisten und lebenslang chronische Entzündungen hervorrufen“, so der Forscher. Welche Mengen an Milchprodukten oder Rindfleisch sie dann später konsumierten, habe wahrscheinlich keinen Einfluss mehr auf das spätere Krebsrisiko.
Schützt Erhitzen vor einer Infektion?
Unklar ist noch, ob die Art der Zubereitung von Kuhmilch und Rindfleisch für die Infektiosität eine Rolle spielt. „Wir haben keine Möglichkeit nachzuweisen, ob die Erreger inaktiviert werden, wenn sie erhitzt werden“, so zur Hausen.
In pasteurisierter Milch seien die Ringmoleküle ebenso vorhanden wie in der nicht-pasteurisierten. „Wir wissen aber nicht, ob sie noch ebenso effektiv in die Zellen eindringen können“, so der Forscher. Er schätzt die die Wahrscheinlichkeit allerdings hoch ein, dass Erhitzen von Milch und Fleisch einen Effekt habe.
Schlummern weitere unbekannte Krebserreger im Körper?
Die Gruppe um zur Hausen vermutet, dass es noch viele weiter Erreger gibt, die andere Krebsarten verursachen könnten. „Wir haben Daten von ungefähr 120 potenziellen Erregern sequenzieren, identifizieren und analysieren können.“ Bislang harren sie im Deutschen Krebsforschungszentrum darauf, untersucht zu werden.
Mehr Impfungen gegen Krebs?
Der Krebsvorsorge eröffnen sich damit große Möglichkeiten: Ob BMMF oder andere Erreger – eine Impfung könnte zuverlässigen Schutz vor den entsprechenden Tumoren bieten. Im Falle des „Bovinen Milch- und Fleisch-Faktors“ müssten vielleicht nicht einmal die Menschen selbst geimpft werden – es könnte reichen, die Kühe und Rinder zu immunisieren.
Bis dahin könnte man Personen, bei denen sich eine Infektion mit BMMF nachweisen lässt, besonders engmaschig auf Tumore hin screenen.
Die Erkenntnis „dringt nur langsam durch“
Doch noch steht die Fachwelt dem Ansatz offenbar wenig aufgeschlossen gegenüber. Zur Hausen nimmt das gelassen: „Wir haben mit HPV die gleiche Erfahrung gemacht“, berichtet er über seine Arbeit mit den Humanen Papillomaviren, die Gebärmutterhalskrebs verursachen können. „Auch damals war das Interesse erstmal nicht sehr groß, weil niemand glaubte, dass ein solcher Zusammenhang existieren könnte – so etwas dringt eher langsam durch.“
Am Ende siegte die Erkenntnis: 2008 erhielt Harald zur Hausen den Medizinnobelpreis für seine Entdeckung. Noch wichtiger: Seit mehr als zehn Jahren gibt es mit der HPV-Impfung ein Mittel, das junge Mädchen vor einer der häufigsten Krebserkrankungen bei Frauen schützt.