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Missbrauch und ertrinkende Flüchtlinge

Agentur für Grund­rechte: Menschen­rechts­verstöße an EU-Außengrenze oft ohne Konsequenzen

Migranten schwimmen neben ihrem umgestürzten Holzboot während einer Rettungsaktion der spanischen NGO Open Arms südlich der italienischen Insel Lampedusa im Mittelmeer.

Migranten schwimmen neben ihrem umgestürzten Holzboot während einer Rettungsaktion der spanischen NGO Open Arms südlich der italienischen Insel Lampedusa im Mittelmeer.

Brüssel. Bei deutschen Touristen ist die griechische Urlaubsinsel Kos beliebt. Doch was sich dort im Sommer 2022 abspielte, findet sich nun im Bericht der EU-Grundrechteagentur wieder, der am Dienstag vorgelegt wurde. Demnach kontrollierten Polizeibeamte im Juni die Papiere von zwei palästinensischen Flüchtlingen auf Kos. Dann sollen die Beamten ihnen Dokumente, Geld und Handys abgenommen und sie an einen abgelegenen Ort gebracht haben. Dort seien die Flüchtlinge misshandelt und sexuell missbraucht worden, bevor sie dann auf einem Rettungsboot auf dem Meer ausgesetzt wurden. Es ist einer von sehr wenigen Fällen, der überhaupt bekannt ist und wegen dem eine Staatsanwaltschaft Ermittlungen eingeleitet hat.

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Viele schwere und weitverbreitete Menschenrechtsverstöße an den EU-Außengrenzen werden dagegen nicht gründlich untersucht und bleiben meist ohne Folgen, so das Fazit des Berichts. Darin äußert die EU-Agentur scharfe Kritik am Verhalten der EU-Mitgliedstaaten und wirft den lokalen Behörden vor, die Opfer im Stich zu lassen. „Obwohl viele Schilderungen glaubwürdig erscheinen, werden viele Vorfälle nicht untersucht“, heißt es in dem Bericht. Und wenn einmal Ermittlungen eingeleitet werden, würden diese oft schnell eingestellt werden. Verurteilungen gebe es selten. „Es herrscht ein Gefühl der Straffreiheit“, so das Fazit.

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EU-Agentur: „Es herrscht ein Gefühl der Straffreiheit“

„Es gibt zu viele Vorwürfe von Menschenrechtsverletzungen an den Grenzen der EU“, sagte Sirpa Rautio, Direktorin der EU-Grundrechteagentur. „Europa hat die Pflicht, alle Menschen an den Grenzen fair, respektvoll und in voller Übereinstimmung mit den Menschenrechtsgesetzen zu behandeln.“ Daher sei eine gründliche und unabhängige Untersuchung aller Fälle von Menschenrechtsverletzung nötig.

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Für Kritik sorgt auch, dass die wenigen Untersuchungen häufig nicht den vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg entwickelten Standards entsprechen. Die ermittelnden Personen seien nicht unabhängig, die Ermittlungen nicht gründlich und transparent und Opfer würden oft nicht beteiligt werden. Die EU-Agentur verweist auf den EGMR, wo Richterinnen und Richter in den vergangenen Jahren in fünf Fällen eine mangelhafte Untersuchung der mutmaßlichen Menschenrechtsverletzungen festgestellt hätten. „Die nationalen Behörden in Griechenland, Kroatien und Ungarn haben Fälle von Misshandlungen und Todesfällen während des Grenzschutzes nicht effektiv untersucht“, so die EU-Grundrechteagentur. Anwälte seien bei ihrer Arbeit behindert worden, der Zugang zu Beweismitteln wie Filmaufnahmen der Grenzüberwachung erschwert worden. Häufig sei nicht ernsthaft versucht worden, Opfer und Zeugen zu finden.

10-Punkte-Plan für die EU-Außengrenze

Grenzschutzbeamte zu Grundrechten zu schulen, würde in den Augen der EU-Agentur schon viel bringen. Ebenso weitere präventive Maßnahmen, wie Bodycams und Namens- oder Nummernschilder, die beispielsweise bei der Polizei in Deutschland längst Standard sind. Die EU-Grundrechteagentur schlägt nun einen Zehn-Punkte-Plan vor und fordert darin spezialisierte Staatsanwaltschaften einzurichten, Zeugenaussagen zu dokumentieren, Anwälte und Opfervertreter bei den Verfahren einzubeziehen sowie Beweismitteln mithilfe von moderner Technik zu sammeln und auszuwerten, beispielsweise Positionsdaten der Handys von Opfern, Zeugen und Grenzbeamten.

Wenn Opfer von nationalen Behörden im Stich gelassen werden, wenden sie sich vereinzelt an den EGMR. Dort sind derzeit mehr als 30 Verfahren wegen mutmaßlicher Misshandlungen an den EU-Außengrenzen anhängig. Das vor wenigen Wochen verabschiedete Migrations- und Asylpaket der EU enthält auch eine Verordnung, in der EU-Mitgliedstaaten verpflichtet werden, Vorwürfen von Grundrechtsverletzungen nachzugehen. Ob dies in der Praxis auch umgesetzt wird, bleibt abzuwarten.

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Am Dienstag prangerte auch die Nichtregierungsorganisation Amnesty International mögliche Menschenrechtsverletzungen an. In einem von der EU finanzierten Flüchtlingslager auf der griechischen Insel Samos sollen Menschen über die zulässige Höchstdauer hinaus inhaftiert worden sein. Zudem sei das Lager regelmäßig überbelegt. Laut Amnesty seien dort im Oktober 2023 zum Beispiel 4.850 Personen untergebracht worden, obwohl die Anlage ursprünglich für 2.040 Personen geplant worden sei.