Die Jagd geht immer weiter: Wie Erdogan seine Gegner verfolgt
Recep Tayyip Erdogan, Präsident der Türkei.
Quelle: Kay Nietfeld/dpa
Die Fahnder kamen am frühen Morgen. In mehreren westtürkischen Provinzen nahm die Polizei bei Razzien in dieser Woche 36 Personen fest, die wegen „terroristischer Aktivitäten“ gesucht wurden. Die Staatsanwaltschaft wirft den Beschuldigten Verbindungen zur Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen vor. Die Regierung sieht in Gülen den Hintermann des Putschversuchs vom 15. Juli 2016. Seine Organisation gilt offiziell unter der Bezeichnung Fethullahci Terör Örgütü (Fetö) als Terrororganisation.
Erst Ende März hatte die Polizei in 20 Provinzen 70 Menschen wegen angeblicher Gülen-Verbindungen verhaftet. Sie sollen versucht haben, „den Polizeiapparat zu infiltrieren“, teilte Innenminister Ali Yerlikaya auf X (vormals Twitter) mit. Man sei ihnen auf die Spur gekommen, weil sie von öffentlichen Telefonen aus mit anderen Terrorverdächtigen gesprochen hätten, so der Innenminister. Anfang März meldeten die Behörden die Festnahmen von 91 Verdächtigen in 30 Provinzen. Wenige Tage zuvor waren 67 Personen wegen angeblicher Gülen-Kontakte verhaftet worden. Auch im Sicherheitsapparat werden die „Säuberungen“ immer noch fortgesetzt: Ende Dezember meldete das türkische Innenministerium, 445 Polizisten seien wegen Gülen-Verbindungen suspendiert worden.
Gülen bestreitet jede Beteiligung an Putschversuch
Der heute fast 83-jährige Gülen bestreitet jede Beteiligung an dem Putschversuch. Er hatte in den 1970er-Jahren mit dem Aufbau seiner Bewegung begonnen. Sie gab sich als religiös gemäßigte, bildungsbewusste Wohltätigkeitsorganisation. Anders als viele türkische Islamisten, stellte Gülen die weltliche Staatsordnung öffentlich nie infrage. Kritiker, wie der türkische Investigativ-Journalist und Gülen-Kenner Ahmet Sik, verwiesen aber schon früh auf die konspirativen Organisationsstrukturen der Bewegung, deren eigentliches Ziel es gewesen sei, die Armee, den Sicherheitsapparat, das Bildungswesen und die öffentliche Verwaltung zu unterwandern. 1999 ging Gülen ins selbst gewählte Exil in die USA, um einem Prozess wegen islamistischer Umtriebe zuvorzukommen. Aus seiner Residenz in Pennsylvania steuert der Geistliche ein weltweites Netzwerk von Bildungseinrichtungen, Stiftungen und Medien.
Gülen und Erdogan waren einst enge Verbündete. Nach dem Wahlsieg Erdogans 2002 arbeiteten beide daran, die kemalistische Elite aus den staatlichen Institutionen und dem Militär zurückzudrängen und Schlüsselstellungen mit eigenen Leuten, strenggläubigen Muslimen, zu besetzen. So bekam Gülen immer mehr Einfluss – und wurde Erdogan schließlich zu mächtig. 2013 kam es zum Bruch. Erdogan ließ zahlreiche Bildungseinrichtungen der Gülen-Bewegung in der Türkei schließen. Gülen unterstützte daraufhin die landesweiten Massenproteste gegen die Regierung im Frühsommer 2013. Aus den einstigen Kompagnons wurden Erzfeinde. Sechs Monate später kamen schwerwiegende Korruptionsvorwürfe hoch, und die Staatsanwaltschaft begann, auch gegen Erdogan und seine Familie vorzugehen. Erdogan sah Gülen und dessen Gefolgsleute in der Justiz als Drahtzieher der Ermittlungen. Mit dem Putschversuch zweieinhalb Jahre später war der Bruch endgültig. Gülen gilt seither als der Staatsfeind Nummer eins.
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Erdogans Säuberungen der Polizei und Gerichte
Erdogan reagierte auf die Meuterei mit umfangreichen „Säuberungen“. Bereits bis zum 20. Juli wurden rund 45.000 Militärs, Polizisten, Richter und andere Staatsbeamte sowie sämtliche Universitätsdekane des Landes suspendiert oder verhaftet. Die „New York Times“ schrieb damals, Erdogan werde „rachsüchtiger und kontrollbesessener als je zuvor“. Er nutze den Putschversuch „nicht nur dazu, meuternde Soldaten zu bestrafen, sondern auch, um jeden Dissens, der in der Türkei noch vorhanden ist, zu unterdrücken“. Tatsächlich bezeichnete Erdogan selbst den Putschversuch als „Geschenk Allahs“. Das löste Spekulationen aus, ob er womöglich von den Plänen für einen Staatsstreich wusste – oder ob es sich bei dem Coup sogar um eine Inszenierung handelte.
In den ersten vier Jahren nach dem Putschversuch wurden nach Angaben des türkischen Innenministeriums 292.000 Menschen bei Einsätzen gegen mutmaßliche Gülen-Anhänger festgenommen. Über 130.000 Staatsbedienstete verloren ihre Stellen und alle Pensionsansprüche. Damit wurden ihre Existenzen zerstört, so die Menschenrechtsorganisation Amnesty International. Mehr als 1000 Unternehmer wurden enteignet, ihre Firmen verstaatlicht.
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Quelle: Reuters
Der versuchte Staatsstreich liegt nun schon fast acht Jahre zurück, aber immer noch geht die Jagd auf angebliche Putschisten unvermindert weiter. Innenminister Yerlikaya berichtete Ende Februar stolz, seit seinem Amtsantritt acht Monate zuvor seien bei Razzien gegen mutmaßliche Fetö-Mitglieder 6045 Personen festgenommen worden, durchschnittlich 33 pro Tag. Die Zahl steigt von Woche zu Woche.
Neue Telefonfahnung führt zu noch mehr Verdächtigen
Dass die Fahnder immer noch neue Verdächtige zu identifizieren glauben, hängt mit der schieren Zahl der Verfahren zusammen. Allein zwischen 2016 und 2020 wurden nach Angaben des Justizministeriums etwa 600.000 Ermittlungsverfahren eingeleitet. 265.000 Menschen wurden im Zusammenhang mit dem Putschversuch verurteilt, davon rund 4000 zu lebenslanger Haft. Aber Zehntausende Ermittlungsverfahren sind immer noch anhängig. Und es werden ständig mehr, denn die Fahnder ersinnen immer neue Methoden.
Beispiel: Die Telefonfahndung, die im März zur Verhaftung von 70 Menschen führte. Dabei analysieren die Ermittler Verbindungsdaten öffentlicher Telefone. Wenn von dort eine Nummer gewählt wird, deren Inhaber als „Gülenist“ gilt, werden auch die unmittelbar vorangegangenen und folgenden Anrufe ausgewertet. Die Fahnder unterstellen, dass ein Gülen-Verschwörer von einem öffentlichen Telefon aus stets mehrere Komplizen nacheinander anruft. Dass dabei schnell Unbescholtene in Verdacht geraten, nimmt die Justiz in Kauf.
Mutmaßungen und Willkür spielen eine große Rolle
Ohnehin spielen Mutmaßungen und Willkür bei der Fahndung nach vermeintlichen Gülen-Verschwörern eine große Rolle. Als Fetö-Terrorist gilt, wer seine Kinder auf eine der Gülen-Bewegung zugerechnete Privatschule schickte, ein Konto bei der mit Gülen in Verbindung gebrachten Bank Asya unterhielt oder die App Bylock auf seinem Smartphone installiert hatte. Die ab 2014 über Google Play und den App Store angebotene Anwendung ermöglicht es anonymen Benutzern, verschlüsselte Nachrichten zu senden. Anhänger der Gülen-Bewegung sollen die App genutzt haben, um sich zu kontaktieren. Im Umkehrschluss verdächtigen die Strafverfolger jetzt pauschal alle Bylock-Nutzer, Gülen-Anhänger zu sein.
Die Türkei bemüht sich seit 2016 in den USA um Gülens Auslieferung, allerdings bisher vergeblich. Die vorgelegten Indizien reichten den US-Behörden nicht aus. Vielleicht ist der Wunsch, ihn in die Türkei zurückzuholen, auch gar nicht so groß. Denn wenn man Gülen dort vor Gericht stellt, könnte er Geschichten aus der gemeinsamen Vergangenheit erzählen, an die Erdogan nicht gern erinnert wird.