WM 2022 - Owen Hargreaves im Interview: "Jamal Musiala hat etwas, was wir in England nicht haben"
Update 16/11/2022 um 11:28 GMT+1 Uhr
Owen Hargreaves spielte für den FC Bayern München und Manchester United auf Top-Level und nahm mit England unter anderem an der WM 2006 in Deutschland teil. Im Interview mit Eurosport spricht der ehemalige Mittelfeldspieler und heutige "BT Sport"-Experte vor der WM 2022 über den deutschen "Steal" mit Jamal Musiala, den vielkritisierten Harry Maguire und die Magie von Wayne Rooney.
Owen Hargreaves weiß, was es heißt, vor einer WM zu stehen - mit welcher Anspannung, welcher Vorfreude.
Der ehemalige Mittelfeldspieler vom FC Bayern München und von Manchester United nahm für England an der WM 2002 und der WM 2006 teil - mit allen Licht- und Schattenseiten.
2002 schied das Mutterland des Fußballs bereits in der Vorrunde aus, 2006 war im Viertelfinale gegen Portugal Endstation.
Vor der WM 2022 spricht der Champions-League-Sieger von 2001 im Interview mit Eurosport über das geniale Talent des Deutsch-Engländers Jamal Musiala, seine Erinnerungen an Wayne Rooney, seinen Rat an Harry Maguire und die Aussichten der deutschen Nationalmannschaft in Katar.
Herr Hargreaves, Jamal Musiala hätte auch für England spielen können, hat sich aber für Deutschland entschieden. Bedauern Sie das?
Owen Hargreaves: Er hat etwas, was wir nicht haben. Jeder Spieler ist anders, aber Musiala ist wirklich einmalig. Als ich ihn das erste Mal spielen sah, hat er mich sofort an Kaká erinnert: die Art und Weise, wie er sich bewegt, wie grazil er ist, wie gut er dribbelt. Wir hätten ihn gerne im englischen Trikot gesehen. Aber ich war auch schon in der Situation, dass sich mehrere Verbände um einen bemühen (Hargreaves wurde in Kanada geboren, Anm. d. Red.). Es ist schwer sich zwischen dem Land, in dem man geboren wurde, und dem Heimatland seiner Mutter zu entscheiden.
Können Sie seine Entscheidung nachvollziehen?
Hargreaves: Bei allem Respekt, das hat nichts mit England oder Deutschland zu tun, sondern einzig mit der Entscheidung eines jungen Mannes, wo er sich am wohlsten fühlt. Ich war wie gesagt auch schon in dieser Situation. Es ist stressig, sehr stressig. Aber er hat die Entscheidung getroffen, von der er denkt, dass sie das Beste für ihn ist. Ich halte ihn einfach für einen erstaunlichen Spieler.
Was beeindruckt Sie genau?
Hargreaves: Dass er in seinem jungen Alter schon auf so hohem Niveau spielt und dass auf gleich mehreren Positionen, zeigt für mich sein einzigartiges Talent. Wenn Deutschland gut abschneidet, könnte er wirklich einer der Stars des Turniers werden.
Ist Musiala für Sie schon jetzt der Schlüsselspieler bei Deutschland?
Hargreaves: Er ist noch jung und es ist schwer zu sagen, wohin das noch alles führt, aber er ist ein Spielertyp, den man beim FC Bayern und bei Deutschland sehr einfach in die Elf einbauen kann. Jeder spricht über das Alter, aber wenn du gut bist, dann bist du bereit. Untergehen oder Schwimmen - und die Guten schwimmen. Die Großen sind für alles bereit. Schauen Sie sich Wayne Rooney oder Lionel Messi an, all diese Jungs, die in jungen Jahren ins kalte Wasser geworfen wurden. Sie finden einen Weg.
Und Musiala?
Hargreaves: Ich glaube, Jamal hat das drauf. Er hat für Deutschland und für den FC Bayern bereits gezeigt, dass er für die Herausforderung gewappnet ist. Ob Hansi Flick ihn jedes Spiel spielen lässt, ist eine andere Frage. Mit Thomas Müller hat er viele Möglichkeiten. Spielt er als Nummer zehn? Spielt er auf Außen? Ich denke aber ganz generell, dass solche Talente immer einen Weg in die Mannschaft finden, sie finden ihren Platz.
Rooney hatte brasilianischen Fähigkeiten, dazu aber das Herz eines englischen Löwen. Er war fußballerisch versiert wie eine Nummer zehn, hatte aber das Herz eines Innenverteidigers - eine ziemlich coole Mischung.
Sie selbst haben 2006 bei der WM den jungen Wayne Rooney hautnah erlebt.
Hargreaves: Als er auf der Bildfläche erschien, war er einer der explosivsten Spieler, die ich je kicken gesehen habe. Er hatte alles: Technik, Persönlichkeit, Aggressivität. Keine Herausforderung war zu groß für ihn. Er spielte auf einem Niveau, das für einen so jungen Typ wirklich unnormal war. Selbst wir als seine Mannschaftskameraden dachten: Das ist verrückt. Im Training hat er Dinge gemacht, die gehen gar nicht. Ich erinnere mich, dass einmal das Training angehalten wurde, weil er einfach alle ausgedribbelt und ein unglaubliches Tor erzielt hat. Alle standen einfach nur da und haben ihm applaudiert. Das habe ich noch nie zuvor gesehen. Da merkt man, dass man es mit jemand Besonderem zu tun hat.
Was hat ihn so stark gemacht?
Hargreaves: Ich glaube, Wayne war einfach dafür gemacht, Fußball zu spielen. Sein Talent war wie eine Mischung aus verschiedenen Nationalitäten - er hatte brasilianische Fähigkeiten, dazu aber das Herz eines englischen Löwen. Er war fußballerisch versiert wie eine Nummer zehn, hatte aber das Herz eines Innenverteidigers - eine ziemlich coole Mischung.
Die englische Nationalmannschaft hat ein schwieriges Jahr hinter sich, zuletzt gab es den Abstieg aus der A-Staffel der Nations League. Spieler wie Harry Maguire stehen hart in der Kritik. Was raten Sie ihm?
Hargreaves: Konzentriere dich auf dein Handwerk, blende den ganzen Lärm aus, lies nichts. Bei der Weltmeisterschaft 2006 wurde ich dafür kritisiert, dass ich überhaupt im Kader stand. Als ich im ersten Spiel eingewechselt wurde, wurde ich von den englischen Fans ausgebuht. Mein Bruder saß in der Menge und war so wütend.
Klingt hart.
Hargreaves: Dabei war bei einer WM zu spielen, immer mein Traum gewesen. Dafür bin ich mit 16 von zu Hause weggegangen, um Fußball zu spielen. Es gab viele Momente, in denen alles gegen mich sprach, aber am Ende waren es mein Ehrgeiz, meine Intensität und meine Einstellung, die mich nach vorne gebracht haben. Ich habe Kanada mit 16 Jahren verlassen und als junger Mann für Bayern gespielt, habe für ein Land gespielt, in dem ich nicht einmal geboren bin. Aber ich habe gelernt, mich auf den Moment zu fokussieren. Harry muss erkennen, dass all diese anderen Dinge, egal was andere denken, keine Rolle spielen.
Wenn Hansi Flick es richtig macht, was er in der Vergangenheit getan hat, sind sie defensiv solide. Bei der letzten WM waren sie defensiv eine Katastrophe.
Und wo sehen Sie die Stärken und Schwächen der deutschen Mannschaft?
Hargreaves: Zunächst einmal haben sie mit Hansi Flick einen super Trainer. Ein Top-Trainer, technisch, taktisch, er lässt einen modernen Fußball spielen. Flick hat konkrete Vorstellungen, wie das Spiel auszusehen hat: dominant mit dem Ball, hoch pressen, mit einer aggressiven Abwehrreihe, viele Tore schießen. Damit hatte er großen Erfolg mit Bayern, er hat so die Champions League gewonnen. Allerdings glaube ich nicht, dass die Mannschaft so stark ist, wie sie es in der Vergangenheit war. Für mich gehören sie nicht zu den Top-Favoriten, aber ich sehe sie in zweiter Reihe mit Spanien, Portugal, England und Belgien. In der ersten Reihe stehen dafür Brasilien, Argentinien und Frankreich.
Und der Schlüssel für eine gute deutsche WM liegt wo?
Hargreaves: Wenn Hansi Flick es richtig macht, was er in der Vergangenheit getan hat, sind sie defensiv solide. Bei der letzten WM waren sie defensiv eine Katastrophe. Sie waren so offen; ich erinnere mich an das erste Spiel gegen Mexiko, da hatten sie etwa 80 Prozent Ballbesitz, aber jedes Mal, wenn Mexiko angegriffen hat, wurde es brandgefährlich. Bei der EM war es gegen Ungarn ähnlich, sie wurden ausgekontert. Hansi Flick ist ein kluger Trainer, und ich bin sicher, dass er dieses Problem angehen wird.
Glauben Sie, dass die deutschen Fans optimistisch sein können?
Hargreaves: Ich denke, Deutschland ist immer vorsichtig zuversichtlich und optimistisch. Tief im Inneren sind die Deutschen vernünftig: Sie wissen, dass sie nicht die Favoriten sind, sogar die Spieler. Aber wenn sie es richtig anstellen, weiß jeder, dass man in einem K.o.-Wettbewerb nicht gegen die Deutschen spielen will.
Das Interview führte Michael Hincks
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