WM 2022 - Drei Dinge, die bei England gegen Frankreich auffielen: Harry Kane verschießt Elfmeter und braucht Security
Update 11/12/2022 um 09:20 GMT+1 Uhr
Harry Kane wird bei Englands WM-Aus in Katar gegen Frankreich (1:2) mit einem verschossenen Elfmeter zur tragischen Figur. Besser macht es Olivier Giroud auf der Gegenseite, der Karim Benzema immer mehr vergessen lässt. Kylian Mbappé und Jude Bellingham werden abgemeldet, Frankreichs Bewacher entpuppen sich aber als die wahren Matchwinner. Drei Dinge, die uns im Viertelfinale auffielen.
Gareth Southgate klang ziemlich stolz. "Wir haben Charakter gezeigt, sind zurückgekommen, haben dem Druck der Erwartungen widerstanden. Aber wir sind raus", sagte der englische Nationaltrainer nach dem hochklassigen 1:2 (0:1) gegen Frankreich im WM-Viertelfinale von Katar.
England hatte dem Titelverteidiger Paroli geboten. Das 1:0 der Franzosen durch Aurelién Tchouaméni (17.) glich Harry Kane per Foulelfmeter aus (54.).
Kane hätte nur allzu gerne die abermalige Führung durch Olivier Giroud (78.) mit einem weiteren Strafstoß egalisiert und England so in die Verlängerung geführt - er verschoss jedoch (84.), vorbei war der englische Traum vom zweiten WM-Titel nach 1966.
"Ich weiß nicht, was wir noch mehr hätten tun können. Es war auch Pech dabei", meinte Jordan Henderson geknickt. "Das war ein ganz wichtiges Spiel für uns. England hat ein tolles Team, aber wir hatten wieder mal die richtige Antwort", freute sich dagegen Frankreichs Trainer Didier Deschamps: "Wir haben Qualität, aber du brauchst auch die richtige Einstellung und Mentalität."
Drei Dinge, die uns bei England gegen Frankreich auffielen.
1.) Kane braucht die Security
England und die Elfmeter - eine Beziehung, über die man gleich mehrere Ratgeber schreiben könnte. Oder Dramen. Das jüngste Kapitel trägt die Überschrift: Harry Kane. Normalerweise ein eiskalter Elfmeterschütze, schoss der Kapitän der Engländer in der 84. Minute seinen zweiten Strafstoß des Spiels deutlich über den Kasten - es hätte sonst 2:2 gestanden.
Nach dem Schlusspfiff ging der Tottenham-Angreifer niedergeschlagen in die Knie. Als die Kamera ihm zu nahe kam, spielten Torhüter Jordan Pickford und Ersatzspieler Kieran Trippier Security, hielten den aus ihrer Sicht zu aufdringlichen Kameramann von ihrem Kapitän fern, schützten ihn vor zu gierigen Blicken.
Kritik an Kane gab's keine. "Ich glaube nicht, dass meine Jungs heute mehr hätten geben können. Ohne Harry Kane wären wir heute gar nicht hier, er war in den letzten Jahren unglaublich wichtig für uns", sagte Trainer Gareth Southgate. "Wir wissen, wie viele Elfer er für uns schon verwandelt hat", meinte Jordan Henderson: "Ich bin mir sicher, er wird auf lange Sicht gestärkt daraus hervorgehen. Er ist ein Weltklasse-Stürmer. Wo wären wir ohne ihn?"
Dass er verschoss, lag sicher auch an der Tatsache, dass ihm Hugo Lloris gegenüberstand - jener Schlussmann, mit dem er seit 2013 gemeinsam bei Tottenham Hotspur trainiert.
Weil Kane zuvor schon einen Elfmeter verwandelt hatte (54.), war seine 1A-Variante schon offengelegt. "Das war einfach ein unglaublicher Druck für ihn und er hat sich verkrampft. Man sieht eine unglaubliche Fokussierung und Konzentration, aber irgendwie hat man auch das Gefühl: Was mach ich jetzt? Und dann geht das so aus", analysierte der deutsche Ex-Nationalspieler Per Mertesacker im "ZDF".
"Beim zweiten Elfmeter hat das etwas mit seinem Kopf gemacht", meinte auch Experte Michael Ballack bei "MagentaTV", früher selbst ein sicherer Elfmeterschütze: "Die kennen sich aus dem Verein, die haben wahrscheinlich im Training einige geschossen, deswegen ist Lloris in seinem Kopf drin. Er kann eigentlich nur verlieren beim zweiten."
Kane habe einfach "zu viel Risiko" in den Schuss gelegt, so Ballack weiter: "Er will noch genauer schießen und verzieht ihn total." Deswegen sei der Kapitän der Engländer "die tragische Figur".
"Es tut schon weh, wenn man ihn sieht, meinen Mitspieler aus dem Klub", sagte Lloris: "Das geht mir unter die Haut. Ich mag ihn. Er ist ein großartiger Spieler, ein großartiger Mensch. Aber das gehört auch zum Fußball dazu - es gibt immer wieder Helden und auch tragische Helden."
Fast schon tragisch-komisch war dagegen die Leistung von Schiedsrichter Wilton Sampaio aus Brasilien, der quasi bei jeder wichtigen Szene leicht überfordert wirkte.
Im ersten Durchgang übersah er beispielsweise in der Entstehung des 1:0 ein klares Foul von Dayot Upamecano an Bukayo Saka, später eins von Upamecano an Kane an der Strafraumgrenze (25.), bei dem er sich dann auch nicht die VAR-Bilder ansehen wollte. "Ich verstehe es nicht", sagte DFB-Schiedsrichter Patrick Ittrich bei "MagentaTV: "Wahrscheinlich hat er sich auf den Oberkörperbereich fixiert und das unten gar nicht wahrgenommen."
Einen elfmeterreifen Schubser von Luke Shaw gegen Giroud ahndete er ebenfalls nicht (75.), das Elfmeterfoul von Theo Hernández an Mason Mount, nach dem Kane verschoss, hätte er dagegen auch ohne VAR-Hilfe sehen können. "Eine bedenkliche Leistung", fasste Ballack zusammen: "Bei den großen Entscheidungen hat er meistens danebengelegen." Nur den ersten Elfmeter für England - Tchouaméni gegen Saka - bewertete Sampaio korrekt.
2.) Frankreich gewinnt das Rausnehmspiel
Keine Frage: Beide Mannschaften hatten ihre (taktischen) Hausaufgaben gemacht. Frankreich hatte im Vorfeld Jude Bellingham als die größte Bedrohung Englands ausgemacht, auf der anderen Seite stand ganz offensichtlich - und auch wenig überraschend - Kylian Mbappé im Fokus.
So wurden diese beiden Spieler mit besonderem Augenmerk bedacht und von beiden Mannschaften mit gehörigem Aufwand neutralisiert. Mbappé bekam bei England Rechtsverteidiger Kyle Walker als Bewacher beigestellt, der sich selbst bei Ballbesitz der Three Lions nicht zu weit vom PSG-Star weg traute. Weil er so meist an der Mittellinie stehen blieb und vor ihm Saka gerne mal nach innen zog, ließ England den rechten Flügel oft sträflich frei.
"Ich habe das bei einem Fußballspiel auf diesem Niveau noch nie gesehen, dass man diesen Raum nicht besetzt", wunderte sich Christoph Kramer im "ZDF" bereits zur Halbzeit. Die Maßnahme verfehlte allerdings seine Wirkung nicht: Mbappé kam nur auf zwei erfolgreiche Dribblings und feuerte nur einen Schuss aufs englische Tor ab.
40 Ballaktionen waren ebenfalls ein schwacher Wert, nur dreimal kam der Top-Torjäger dieser WM (fünf Tore) im Strafraum an den Ball. "Ein Totalausfall, weil er gut zugestellt wurde", fand Mertesacker. "Aber du kannst Mbappé auch mit einem Innenverteidiger und einem Sechser doppeln, so dass nichts passiert", entgegne Kramer und sah wegen Walkers Inaktivität einen Pyrrhussieg für England.
Ganz anders auf der Gegenseite: Dort bekam Jude Bellingham als halblinker Achter der Engländer gleich zwei Bewacher. Antoine Griezmann stellte sich gehörig in den Dienst der Équipe Tricolore, in dem er immer wieder die Passwege auf den BVB-Star blockierte, ihn sozusagen dauerhaft in seinem Deckungsschatten parkte.
Bei Ballgewinn der Engländer schob zudem der Sechser Tchouaméni immer leicht rechts hoch, um Bellingham den Raum zu nehmen. Derart beschnitten, konnte der 19-Jährige nur selten seine Dynamik im Umschaltspiel ausspielen. Der Dortmunder kam zwar auf 20 Pässe im letzten Drittel des Feldes, brachte davon aber nur 70 Prozent an - kein besonders guter Wert. Bellingham feuerte auch nur einen Torschuss ab, scheiterte damit aber am stark parierenden Lloris (48.).
Anders als Walker wirkten Bellinghams Bewacher aber selbst entscheidend in der Offensive: Tchouaméni erzielte das Führungstor per Fernschuss durch die Beine des Dortmunders (17.), Griezmann bereitete beide Treffer des Titelverteidigers vor. Dass Tchouaméni zudem den ersten Elfmeter an Saka verursachte (52.), war ein Schönheitsfehler an dessen sonst tadelloser Leistung.
3.) Giroud entdeckt den Benzema in sich
Kurz vor Beginn der Weltmeisterschaft hatte sich Olivier Giroud schon mit einer Ersatzrolle in Katar abgefunden - schließlich war Karim Benzema, frischgebackener Gewinner des Ballon d'Or, für die Mittelstürmerrolle in Frankreichs Team der Hochkaräter vorgesehen.
Doch dann verletzte sich der Star von Real Madrid kurz vor dem ersten Spiel und Giroud, 36, wurde doch wieder gebraucht. Bei der erfolgreichen WM 2018 schon in allen sieben Spielen eingesetzt, aber nur mit zwei Torvorlagen und einem einzigen Torschuss auffällig, läuft es für ihn vier Jahre später deutlich besser.
Beim 4:1 zum Auftakt gegen Australien trug sich Giroud zweimal in die Torschützenliste ein, zudem traf er beim 3:1 im Achtelfinale gegen Polen und nun zum Sieg gegen England - alles wichtige Treffer. Gegen Australien stellte er auf 2:1 und machte mit dem 4:1 den Deckel drauf. Gegen Polen erzielte er das 1:0, nun das Siegtor.
"Das ist seine Klasse - aus dem Nichts Tore zu schießen", sagte Ballack bei "MagentaTV: "Das ist eine Wahnsinnsbilanz. Er hat dieses Gespür. Er ist mehr als nur Ersatz für Benzema."
Hatte Giroud in der 77. Minute die Führung nach Kopfballablage von Ousmane Dembélé noch liegengelassen, stand er eine Minute später bei Griezmanns Flanke goldrichtig - dass Harry Maguire seinen Kopfball noch mit dem Arm unhaltbar abfälschte, war das Glück des Tüchtigen.
"Ich wusste, ich bekomme noch eine Chance", meinte Giroud selbst: "Ich stand da ganz gut, die Flanke war wirklich super."
Vier Jahre nach dem WM-Triumph wieder im Halbfinale zu stehen, sei "außergewöhnlich". Giroud fühlte sich durch den Auftritt gegen England ans Semifinale vor vier Jahren gegen Belgien erinnert, als man die goldene Generation der Roten Teufel durch disziplinierte Defensivarbeit entzaubert hatte. Samuel Umtiti köpfte damals das 1:0-Siegtor.
"Wir haben defensiv supergut gearbeitet", meinte Giroud nun. "Das war ein sehr wichtiger Sieg für uns, denn wir wussten, was diese junge Generation der Engländer draufhat. Das sind super Typen. Aber wir haben alles reingehauen, hatten die richtige Mentalität. Ich bin superstolz auf dieses Team und ich bin mir sicher, es geht so weit, wie es gehen kann."
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